Es wäre so schön, wenn es das eine Patentrezept geben würde: Tue dies und dein Kind entwickelt eine sichere Bindung zu dir, die es ein ganzes Leben lang schützt und trägt. Gerne werden wahlweise das Stillen, Tragen oder Cosleeping als solche Wundermittel betrachtet. Tatsächlich stecken aber in der Annahme zwei Fehler: Es gibt nicht das eine Wundermittel und Bindungsmuster können sich über das Leben hinweg verändern.
Es ist nicht alles in Stein gemeißelt
Das Bindungsmuster ist nicht in Stein gemeißelt. Diese Erkenntnis bringt für Eltern oft zwei gegenteilige Empfindungen mit: Einerseits entlastet es gerade jene, die vielleicht einen schwierigen Start in das Familienleben hatten, denen es schwer gefallen ist, eine Beziehung aufzubauen und sich nah zu kommen – nach einer Geburt, die ganz anders lief als geplant und nach der Eltern und Kind vielleicht erst einmal getrennt sein mussten oder auch, wenn der Start schwierig war, weil das Baby besonders viel weinte. Für diese Eltern bringt die Erkenntnis, dass sich Bindungsmuster im Laufe des Lebens wandeln können, einen wahren Schatz mit: Es ist nie zu spät! Wir können zu einem späteren Zeitpunkt beginnen, eine tiefe und bedürfnisorientierte Beziehung aufzubauen und das Kind so in der Entwicklung unterstützen.
Es entlastet auch die Eltern, die im Laufe des Familienlebens feststellen, dass es Situationen gibt, in denen es ihnen besonders scher fällt, feinfühlig oder bedürfnisorientiert zu handeln, wenn Stimmen aus der eigenen Kindheit hoch kommen und Eltern ganz anders handeln, als sie es eigentlich wollen. Denn wir können unser Verhalten unserem Kind gegenüber ändern, wenn wir an unseren eigenen inneren Arbeitsmodellen arbeiten (manchmal brauchen wir dafür therapeutische Unterstützung) und können auch unser Kind unterstützen, die inneren Arbeitsmodelle von Bindung zu ändern. Es ist deswegen nie zu spät, eine Beratung und Therapie wahrzunehmen, um den Umgang zu verändern und für Kinder ist es nie zu spät, von einer Änderung des elterlichen Verhaltens zu profitieren. Auch wenn Eltern erst im Verlauf der Kindheit ihren Erziehungsstil ändern hin zu einem respektvollen, bedürfnisorientierten Umgang, kann das für das Kind eine große Unterstützung für das aktuelle und zukünftige Erleben sein.
Auf der anderen Seite bedeutet die Erkenntnis, dass Bindung nicht in Stein gemeißelt ist aber auch: Es reicht nicht, nur am Anfang liebe- und verständnisvoll zu sein, sondern Bindung ist ein Prozess, der sich über das Leben erstreckt und wir haben unsere ganze Elternschaft damit zu tun.
„Bindung kann wachsen und braucht manchmal auch einfach Zeit. Und: Es ist nie zu spät, um Geborgenheit zu geben – wie auch immer der Anfang war.“
S. Mierau „Geborgen wachsen. Wie Kinder glücklich groß werden“
Bindung geschieht im Alltag
Bindung findet also im Alltag statt. In den vielen kleinen Momenten und über die Situationen hinweg verteilt. Sie zeigt sich in dem Mahlzeiten, im Wickeln, im Zubettbringen, im Gespräch und im Spiel. Viel mehr als durch eine bestimmte Handlung oder durch bestimmte Dinge, die wir verwenden oder nicht verwenden, macht sie sich in diesem Alltag bemerkbar in unserer inneren Haltung, unserer Zuwendung und Feinfühligkeit: Nehmen wir Bedürfnisse wahr? Interpretieren wir sie richtig? Reagieren wir (je nach Alter des Kindes) prompt und passend? Ist es dem Kind auch möglich, in den vielen Alltagssituationen auch Gefühle wie Trauer und Wut ausdrücken zu dürfen und wird es dabei begleitet? Vermitteln wir dadurch und in den anderen Handlungen Sicherheit und Zuverlässigkeit für das Kind? Weiß es, dass wir da sind und jedes Gefühl als okay annehmen und begleiten? Sind wir auch nach als schwierig erlebten Situationen wieder zugewandt, verzeihen dem Kind und uns und entschuldigen uns beim Kind, wenn etwas mal nicht gut läuft?
Bringen wir diese Haltung in den vielen Situationen im Alltag mit, haben wir eine gute Chance, eine stabile Basis aufzubauen. Sie kann sich noch immer ändern durch andere Einflüsse, aber wir geben unserem Kind die Chance, auf Basis der positiven Erfahrungen mit uns sicher und aufgeschlossen in weitere Beziehungen und Lernerfahrungen einzutauchen und damit umzugehen. Durch ein sicheres emotionales Zuhause hat es die Chance, abenteuerlustig zu Welt zu erkunden und bei Bedarf zurück zukommen, um Hilfe zu bitten und das sichere Gefühl zu haben, in den Bedürfnissen angenommen zu werden. Wie genau es diesen Alltag gestaltet und auslebt, ist auch eine Frage des Temperaments. Zunächst hat es prinzipiell die Möglichkeit, nach dem eigenen Tempo und Bedürfnis vorzugehen.
Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik)Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Magazine über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.