Tag: 2. September 2018

Unser Weg mit einem Schreibaby – „Meine Tochter brauchte gefühlt immer mehr von allem: mehr Milch, viel mehr Nähe“

Schreibabys, Babys mit starken Bedürfnissen, High Need Babys – noch immer sind diese Themen oft mit Scham besetzt, es gibt viele Vorurteile und falsche Informationen. In der Reihe „Unser Weg mit einem Schreibaby“ wollen wir dieses Thema aus der Nische holen, Menschen sensibilisieren und betroffene Eltern unterstützen.
Hier berichtet Stephanie über ihren Weg mit einem „Schreibaby“: Ein Baby, das immer etwas mehr brauchte von allem. Wenn Du über Deine Erfahrung berichten möchtest, schreib an [email protected]

1. Stephanie, Deine Schwangerschaft startete nicht ganz so, wie es bei den meisten anderen. Welche Hindernisse musstet Ihr am Anfang überwinden?
Ja das stimmt, nach einer langen Kinderwunschzeit mit einigen Steinen, startete meine Schwangerschaft mit Blutungen. Wir hatten die erste Zeit permanent Angst dieses kleine Wunder zu verlieren.

2. Nach dieser schweren Zeit, ging es aber glücklicherweise ganz anders weiter: Wie hast Du die restliche Schwangerschaft und Geburt erlebt?
Die Schwangerschaft war schön und ich hatte wenig Probleme. Wir freuten uns unendlich auf unsere Tochter. Ich sang ihr jeden Abend ein Schlaflied vor und mein Mann cremte den Bauch ein. Als es langsam Richtung Ende der Schwangerschaft ging, wurde ich nervös weil sich meine Tochter nicht drehen wollte. In der 37. SSW sagte der Arzt mir, das ich sie auch in Steißlage bekommen könnte und ich beschäftigte mich gar nicht mehr wirklich mit einem Kaiserschnitt. Für mich bzw. uns war auch völlig klar, dass sie nicht geholt werden sollte, sie sollte sich auf den Weg machen wenn sie soweit ist. Die Wehen kamen und wir gingen, rückblickend betrachtet vielleicht zu früh, ins Krankenhaus. Dort ließ man uns eigentlich in Ruhe. Ich und mein Mann arbeiteten uns gemeinsam durch die Wehen. Durch die Steißlage wird in die Geburt am Anfang ja kaum eingegriffen weil die Kraft am Ende zur Geburt des Kopfes benötigt wird. Letztendlich verbrachten wir die nächsten über 30 Stunden in diesem Krankenhaus mit Wehen, die mal ganz regelmäßig aller 5 Minuten kamen aber auch Zeiten wo nur aller 10-15 Minuten eine Wehe kam. Irgendwann war ich so am Ende, weil ich auch permanent brechen musste, dass ich mir nicht mehr vorstellen konnte mein Kind normal zu gebären. Ich bat um einen Kaiserschnitt, meine Tochter sollte somit am selben Tag wie mein Papa geboren werden. Für mich war der Kaiserschnitt eine Erlösung, nicht das was ich wollte aber doch irgendwie richtig. Meine Tochter war perfekt, mein Mann hielt sie für mich und ließ sie auch die erste Stunde nicht aus den Augen und Armen, auch zu jeglichen Untersuchungen begleitete er sie. Dann kamen die beiden mit der Hebamme zu mir und das Stillen klappte vom ersten Moment an und es war die ganz große Liebe. Durch die tolle Vorbereitung im Geburtsvorbereitungskurs unserer Hebamme, wussten wir genau was wir beim Stillen beachten mussten und was erste Hungeranzeichen des Babys sind.

3. Als Ihr nach dem Kaiserschnitt dann nach Hause kamt: Wie ging es Dir und Euch? Wie ist Deine Tochter bei Euch zu Hause angekommen?
Uns ging es hervorragend, natürlich hatte ich Schmerzen aber wir hatten eine tolle Hebamme, die uns schon im Geburtsvorbereitungskurs sagte, dass das Wochenbett fürs Bett gedacht ist, dass man die erste Woche wirklich nur im Bett bleiben sollte und der Mann möglichst am Anfang seine  Elternzeit nehmen soll. Durch den Kaiserschnitt konnte ich am Anfang wirklich nicht so gut Laufen und so übernahm mein Mann das Spazieren. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch stundenlang mit unserer Tochter im Kinderwagen spazieren gehen. Die Nächte waren von Anfang an durchstillt. Sie zeigte, wie schon im Krankenhaus, die ersten Hungeranzeichen und so könnten wir prompt reagieren. Sie ließ sich nicht ablegen, geschweige den weglegen aber wir genossen es und sie schlief abwechselnd auf mir oder meinem Mann tagsüber. Nachts versuchte ich sie immer in ihr Beistellbett zu legen aber diese 10 cm Abstand gefielen ihr nicht. Nichts was ich für den Anfang als ungewöhnlich bezeichnen würde. Unser Stillen klappte super gut, so als ob wir beide noch nie etwas anderes gemacht hätten. Am Anfang war alles „normal“.

4. Das erste Anzeichen dafür, dass Deine Tochter anders als andere Dir bekannte Babys war, hast Du also am Stillen festgemacht?
Ja sie trank gut aber auch gefühlt permanent und irgendwann um die 8. Woche fing sie an meine Brust anzuschreien. Ab diesem Zeitpunkt fand sie nur, wir nennen es liebevoll „schuppelnd“ also quasi wackelnd, in den Schlaf. Stundenlang hopste ich auf dem Pezziball, trugen wir sie auf dem Arm im Fliegergriff oder gingen mit dem Tragetuch spazieren, was aber nicht selten darin endete, dass wir sie versuchten abzulegen und letztendlich wachte sie doch immer auf. Irgendwann stillte sie nur noch im Liegen, also musste ich unterwegs immer mit ihr zum Wickeltisch gehen und sie so stillen, anders funktionierte es einfach nicht, auch zu Hause stillten wir nur noch so. Sie zeigte keine frühen Hungeranzeichen mehr sonder schrie immer sofort los und ließ sich kaum beruhigen.

5. Wann wurde bei Euch der Alltag schwieriger und wie gestaltete er sich?
So ungefähr 2 Wochen bevor mein Mann wieder arbeiten musste, sie musste immer bewegt werden. Stehen bleiben oder Sitzen ging nicht, Stillen ging nur noch im Liegen. Ohne meine Hebamme, die mich dazu ermutigte durchzuhalten und auch eventuelle Blockaden abklären zu lassen, hätte ich wahrscheinlich viel eher aufgehört zu Stillen. So haben wir bis 2,5 zum Einschlafen gestillt und erst in diesem Sommer, auf meinen Wunsch hin, aufgehört. Mein Mann schlief ein Jahr auf dem Sofa weil er früh immer extrem zeitig auf Arbeit pendeln musste und meine Tochter nachts permanent aufwachte und schrie und sich manchmal einfach durch nichts beruhigte oder stundenlang wach war oder durchstillte. Sie fuhr nicht gern Auto, ich sang manchmal gefühlt um mein Leben, weil dass das Einzige war, was sie im Auto etwas beruhigte. Leider dachten wir zu diesem Zeitpunkt auch, dass wir die 25 km zu unseren Eltern jedes Wochenende fahren müssten. Ich hatte das Gefühl nicht zu genügen und wir hatten immer wieder das Gefühl etwas falsch zu machen, etwas Entscheidendes zu übersehen. Meine Tochter brauchte gefühlt immer mehr von allem, mehr Milch, viel mehr Nähe. Am schlimmsten waren die Stimmen von außen, die uns wirklich nur helfen wollten aber mich eigentlich nur verunsicherten und das war für uns nicht wirklich besser. Am Anfang beruhigte mich meine Hebamme noch weil sie noch unter 3 Monaten war aber irgendwann sagte auch sie, dass wir das beim Orthopäden überprüfen lassen sollten und dieser fand dann Blockaden, unter anderem auch im Halswirbel, das sogenannte KISS (Kopfinduzierte Symmetriestörung) Ich kann nicht sagen ob es ihr wirklich half, sie blieb trotzdem immer unzufrieden, wollte nur auf den Arm und selbst im Tragetuch gefiel es ihr nicht wirklich und um jeden Schlaf mussten wir kämpfen. Sie ist nie einfach mal eingeschlafen. Mit einem Jahr sollte sie eigentlich in die Krippe kommen aber wir entschieden uns sie zu einer Tagesmutter zu geben, bei ihr konnte sie sich langsam eingewöhnen und auch an Mittagsschlaf ohne Stillen gewöhnte sie sich bei ihr durch viel Nähe. Jetzt ist sie mittlerweile im Kindergarten und es funktioniert wunderbar. Eine Krippe wäre trotzdem nichts für sie gewesen, sie mochte noch nie große Menschenmengen.

6. Wie hat Euer Umfeld auf Eure viel weinende Tochter reagiert?
Sie haben versucht eine Lösung zu finden. Entweder man dachte sie hat Bauchweh (Nummer 1 Grund) oder es war das Stillen oder wir waren einfach zu weich und hätten sie abhärten müssen. Das kam für uns nicht in Frage und darauf haben wir uns heute erst ein High Five gegeben, weil wir zum Glück diese Hebamme hatten, die uns auf den Bedürfnisorientierten Weg gebracht hat. Heute finde ich es einfach furchtbar, dass niemand einfach dieses Kind so akzeptiert hat wie es war und so konnte auch ich es lange nicht akzeptieren. Auch unsere Vorstellungen passten nicht mit der Realität zusammen. Wir haben vor der Geburt viel Sport zusammen gemacht und nach der Geburt dachten wir, wir können sie einfach mitnehmen und sie mit dem Kinderwagen in eine Ecke stellen und trainieren, weil ging ja bei anderen auch. Viele haben uns nicht verstanden, weil gefühlt alle Kinder in unserer Umgebung entspannt und zufrieden waren. Ein totaler Tiefpunkt war eine Familiengeburtstagsfeier, da war ein anderes gleichaltriges Baby und das guckte nur rum und unsere Tochter schrie im Fliegergriff. Eigentlich hätten wir einfach gehen sollen aber wir dachten halt, irgendwie muss der Alltag doch normaler werden. Auch wenn Freunde zu Besuch waren schrie sie und ich musste mit ihr in einen ruhigen Raum gehen. Ehrlich gesagt, hätte ich vor meiner Tochter, auch gedacht, dass die Eltern da wohl was falsch machen.

7. Nun ist sie schon 3 Jahre alt. Wie ist Euer Alltag heute?
Das Thema Schlaf ist weiterhin ein Empfindliches, wenn in unserem Viertel irgendwo ein Kind weint, denken wir prompt, dass es unseres ist. Sie findet auch heute noch sehr schlecht in den Schlaf und wacht häufig auf, es ist aber schon viel besser wie früher. Außerdem ist sie so ein emphatischer und glücklicher kleiner Mensch. Sie geht so offen auf Leute zu und hat schon früh morgens ein Lächeln auf den Lippen. Ich würde trotzdem sagen, dass sie auch heute noch herausfordernder ist als andere Kinder, diese gewisse Unzufriedenheit hat sie auch heute noch. Sie braucht einfach ein bisschen mehr von allem. Aber durch vieles Lesen verstehen wir unsere Tochter, sie ist einfach etwas ganz besonderes und hat uns in unserer Entwicklung so viel weiter gebracht! Ich bzw. wir haben so viel auch über uns gelernt aber wir haben auch wirklich ein kleines Babytrauma davon getragen.

Weitere Erfahrungsberichte gibt es hier:
Unser Weg mit einem Schreibaby – Julia von familiengarten berichtet
Unser Weg mit einem Schreibaby – Nina, ihr Baby und Reflux
Unser Weg mit einem Schreibaby – Sarah und ihr Weg nach traumatischer Geburt