Tag: 19. Dezember 2015

Attachment Parenting und alles wird gut?

Ich wünschte manchmal, es gebe das Patentrezept. Das Rezept mit dem alles gut wird. In den vielen Jahren, in denen ich schon mit Eltern arbeite, habe ich nämlich so viele ganz wunderbare Eltern kennengelernt. So viele Eltern, die Probleme hatten mit der Elternschaft, mit ihren Kindern oder Babys und die von außen betrachtet aber einfach tolle Eltern sind. Wie gerne hätte ich ihnen für die Probleme, mit denen sie zu mir gekommen sind, eine ganz einfache Lösung angeboten: Du musst Dein Baby nur zu Dir ins Bett holen und alles wird gut. Oder: Du musst es nur jeden Tag soundso viele Stunden an Deinem Körper tragen und es wird das zufriedenste Baby der Welt. Wir alle wünschen uns das Beste für unsere Kinder und wir tun unser möglichstes, damit es ihnen gut geht. Wir Eltern sind gute Eltern, auch wenn wir es manchmal nicht fühlen. Vielleicht auch gerade dann, wenn wir es nicht fühlen, aber es uns so sehr wünschen zu fühlen: Denn wir geben so viel dafür, dass es unseren Kindern gut geht und denken darüber nach.

Nicht nur Eltern nehmen Einfluss auf Kinder

Aber es ist ein Märchen, dass es das eine Rezept gibt mit dem alles gut wird. Es ist ein Märchen, an das wir Eltern manchmal gerne glauben wollen, weil es uns im Alltag so sehr helfen würde. Weil wir denken: Es muss doch irgendwas geben, durch das es besser wird. Und auf der anderen Seite setzen wir uns selbst damit unter Druck: Ich habe etwas falsch gemacht, ich habe nur noch nicht die eine, wirkliche Wahrheit gefunden, durch die alles gut wird, durch die ich die perfekte Mutter oder der perfekte Vater werde und mein Kind durchschläft, gut isst und/oder sozial angepasst ist. Die Wahrheit ist: Es gibt kein immer gelingendes Rezept. Es gibt gute Zutaten, mit denen wir unseren Kindern einen guten Weg ebnen können. Es gibt Verhaltensweisen, die es unterstützen, dass unsere Kinder eine sichere Bindung aufbauen und auf dieser Basis viele Dinge im Leben leichter fallen. Aber es gibt kein Patentrezept für ruhige Nächte, für gelingendes Stillen oder die super beste Geburt. Denn: Wir sind nicht die einzigen, die auf die Entwicklung unseres Kindes Einfluss nehmen. Wir leben in einer Gesellschaft, die Einfluss nimmt, in Häusern, die durch Raumklima, Schimmelpilze oder Nachbarn Einfluss haben, in Städten mit viel Verkehr, Feinstaub, Lärm oder weniger davon, in großen Familien mit viel Unterstützung oder kleinen mit gar keiner. Wir haben eine Vergangenheit, die uns in unserem Verhalten und unserer Toleranz bei aller Anstrengung immer wieder beeinflusst und Erinnerungen hervor holt. Und das wichtigste: Wir haben Kinder, die eigene Persönlichkeiten sind mit einem eigenen Temperament.

Wenn wir annehmen, dass die volle Verantwortung für das Glück oder Unglück unserer Kinder allein auf unseren Schultern lastet, sind wir beeinflusst von der veralteten Vorstellung, unsere Kinder wären nur Gefäße, die wir füllen. Ton, den wir unter unseren Händen formen. Aber wir wissen heute, dass das nicht stimmt. Wir Eltern sind BegleiterInnen auf dem Weg unserer Kinder, die von sich aus ihr Temperament, ihr Wesen mitbringen. Wir können an ihrer Seite gehen, sie begleiten und stützen, aber wir können sie nicht genau so formen, wie wir es wollen.

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Attachment Parenting und “High Need” Kinder

Und genau das ist auch der Grund, warum auch Attachment Parenting kein Rezept ist, durch das ein sorgenfreies Leben als Eltern garantiert ist. Wir können mit bestimmten Verhaltensweisen unsere Kinder stärken und ihnen liebevoll begegnen auf ihrem Weg und sie auf diese Weise stark und selbstsicher für das Leben machen. Aber wir können – und sollten – nicht versuchen, ihr Temperament zu ändern. Mit manchen Kindern ist die Kommunikation von Anfang an schwieriger, mit anderen leichter. Es kann auf Seiten der Eltern und der Kinder dafür Gründe geben, die es zu erforschen gilt. Wenn Kinder mit besonderen Bedürfnissen in unser Leben treten, reicht es eben nicht aus zu sagen: Na Du musste dieses Kind nur genug tragen/stillen/im Familienbett schlafen lassen damit alles gut wird. Auf diese Weise funktioniert Attachment Parenting nicht.

Es gibt Kinder mit besonderen Bedürfnissen oder sagen wir: mit noch besondereren Bedürfnissen als andere oder stärkeren Bedürfnissen. Woher diese stärken Bedürfnisse kommen, ist unterschiedlich. Es ist eine Frage des Temperaments, kann auch organisch bedingt sein oder sozial. Doch warum genau das Kind so ist, spielt im ersten Schritt keine Rolle. Es geht nur darum zu sehen, dass ein Kind so ist und deswegen andere Anforderungen an die Eltern stellt als ein Kind, das vielleicht ein sanfteres Temperament hat. Deswegen ist es nicht nur anmaßend, sondern vor allem auch falsch, diesen Eltern zu sagen, welche Dinge sie nun tun könnten, um ihr Kind zu ändern. In vielen Fällen lässt sich ein “high needs” Kind nicht einfach so ändern – auch wenn die Eltern täglich ihr bestes geben, damit es weniger fordernd, weniger laut, weniger anders ist als andere.

Bindungsorientiert zu leben mit einem Kind ist immer von Vorteil. Egal was für ein Temperament das Kind hat, wie es ist, welche Besonderheiten es in das Leben mit einbringt. es hilft langfristig, aber es ist keine kurzfristige Möglichkeit, um ein Kind zu ändern. Gerade “High need” Kindern kann es für ihren späteren Weg eine große Hilfe sein, wenn wir sie bindungsorientiert wachsen lassen, damit sie ihr Leben selbstbewusst und gut leben können. Aber es ändert nichts daran, dass sie nun einmal stärkere Bedürfnisse haben als andere.

Ich habe ein “high need” Kind. Es war ein “high need” Baby und es hat sich in den Jahren nichts daran geändert, dass es immer mehr Zuwendung brauchte auf vielen Bereichen als das Geschwisterkind. Es war auch für mich ein harter Weg zu erkennen, dass ich – egal wie sehr ich stillte, trug, im Bett schlafen ließ, auf Signale achtetet – nichts daran ändern konnte, dass dieses Kind eben so ist, wie es ist. Ich habe gelernt, es anzunehmen. Es war eine nicht einfache Zeit, denn sie rüttelte auch ein wenig an meinen Vorstellungen mit dem Gedanken: Aber es muss doch irgendwas geben, dass… Es gab nichts außer der Zeit und dem Verstehen und Annehmen.

Ist ein Kind annehmen Aufopferung?

Einen Menschen wirklich in seinem Wesen zu erkennen ist wohl das größte Geschenk, das wir ihm machen können. Denn es bedeutet: Von unseren Ansichten und unseren Vorbehalten abzurücken und sich einzulassen. Manchmal ist es nicht einfach,von vorgefertigten Bildern im Kopf Abstand zu nehmen und neu und offen auf einen Menschen zu zu gehen. Doch wenn wir diesen Weg gehen, dann ergibt sich ein tieferes Miteinander, ein gleichwertiges: Ich sehe Dich wirklich und ich nehme Dich so an.

Wenn wir bindungsorientiert Leben mit unseren Kindern, müssen wir nicht alles machen vom Stillen über Tragen bis Windelfrei. Wir suchen uns die Sachen aus,die zu uns und unserem Leben passen und gehen unseren persönlichen Weg. Es gibt nicht das eine Rezept für ein gelungenes Familienleben, aber es gibt gute Zutaten. Und nein: Wir Eltern müssen uns nicht aufopfern, sondern wir gestalten das Leben genau so, wie es zu uns passt.

Wenn wir ein Kind haben, das besondere Bedürfnisse hat, müssen wir uns ebenfalls nicht aufopfern. Es ist sogar besonders wichtig, dass wir gerade dies nicht tun, sondern mit unseren Kräften haushalten, Grenzen erkennen und sorgsam mit uns selbst umgehen. Wir geben, was wir geben können – wie es alle Eltern der Welt tun möchten. Und wir sind keine schlechten Eltern, weil wir an Grenzen kommen oder nicht den nicht-existenten Zauberknopf finden.

Es gibt ihn nicht, den Zauberknopf. Das ist die schlichte Wahrheit. Es gibt gute Dinge, die wir für unsere Kinder tun können in dem Rahmen, der uns persönlich möglich ist. Elternschaft bedeutet gerade auch, nicht über die eigenen Grenzen zu gehen, damit wir für unsere Kinder da sein können. Wir müssen nicht 150% geben, wenn wir dann ausgebrannt sind und nur noch 50% Energie haben für lange Zeit. Es reicht aus, einfach weniger zu geben, wir müssen nicht perfekt sein, sondern nur gut genug.

Eure
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Anstoß für diesen Beitrag gab der Aufruf von Frau Chamailion

 

 

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