Orientierung schenken (statt Grenzen setzen)

Die Bezeichnung „Grenzen setzen“ hat für viele Eltern einen eher negativen Beigeschmack. Zu sehr werden damit oft Strafen und Willkür verbunden, häufig in Verbindung mit eigenen negativen Kindheitserfahrungen. Prinzipiell jedoch ist es gar nicht verkehrt, dass Kinder auch die Begrenzungen ihres Handelns, Tuns und ihrer Umgebung erfahren dürfen. Um sich sicher in der Welt bewegen zu können, ist es bedeutsam, die eigenen körperlichen Grenzen zu kennen, die eigenen psychischen Grenzen zu kennen und zu schützen und auch im Außen Grenzen gegenüber anderen wahren zu können. Um Kindern dieses mitzugeben, ist es wichtig, sich als Elternteil mit dem eigenen Unwohlsein gegenüber Grenzen auseinanderzusetzen. Eine Annäherung kann dadurch erfolgen, eine neue Bezeichnung zu wählen, die nicht so negativ belegt ist, wie sie sich für einige anfühlen mag.

Menschen benötigen Orientierung

Orientierung zu haben, ist für unser Wohlergehen bedeutsam. Wir wollen die Welt verstehen, in der wir uns befinden. Gerade auch in Bezug auf das soziale Miteinander brauchen wir Orientierung, welche Grenzen wo gelten und wie man sie berücksichtigen sollte. Kinder gewinnen Orientierung durch ihre Bezugspersonen: Ihr Vorbildverhalten gibt ihnen eine Orientierung in ihrer Umwelt und das Erziehungsverhalten gibt ihnen auch eine Orientierung im Innen: Wenn ich bestimmte Signale sende, reagieren meine Bezugspersonen mit einem dazu passenden Verhalten – bestenfalls verlässlich und in weiten Teilen auch vorhersagbar. So kann sich ein Vertrauen in die Bezugspersonen entwickeln und auch das Selbstbild ausgebaut werden.

Überall gibt es Grenzen

Grenzen erfahren Kinder ohnehin jeden Tag vielfach aus dem Alltag heraus: sie erleben die eigenen körperlichen Grenzen, wenn sie etwas nicht erreichen oder heben oder bewegen können, erleben dingliche Grenzen und müssen der Frustration begegnen, wenn sie eine ganz konkrete Vorstellung vom Ablauf einer Handlung hatten und diese dann nicht so eintritt, und sie erleben die menschlichen Grenzen ihres Gegenüber, wenn dieser andere Mensch etwas nicht mag, zurückweist oder ausweicht. Die Regeln, die hinter diesen Erfahrungen stehen und die sie durch ihr Handeln lernen, bieten ihnen eine Orientierung: so kann ich einem Menschen, Tier oder Gegenstand begegnen und so nicht. Das erreiche ich noch nicht, aber vielleicht bald, wenn ich etwas größer bin.

Orientierung ist hilfreich

Bezugspersonen bieten mit ihren Grenzen Orientierung. Gleichzeitig geben sie dem Kind auch Orientierung durch Worte und Handlungen zum Schutz von Dingen, Tieren und anderen Menschen. Sie erklären die Welt, um es dem Kind zu erleichtern, sich darin zu bewegen und sie zu verstehen: Warum man was nicht tun sollte, warum man was auf jeden Fall tun sollte. Von Familie zu Familie kann es unterschiedliche Regeln und Grenzen geben. All dies sind Informationen, die das Kind braucht, um sich zunehmend sicher in seiner Umgebung bewegen zu können. Orientierung bietet dem Kind damit einen sicheren Zugang zu der Umwelt aus dem Schutz der Bezugspersonen heraus.

Es geht also nicht um willkürlich gesetzte Regeln und Machtmissbrauch, sondern vielmehr um ein feinfühliges Wahrnehmen dessen, was es dem Kind erleichtert, sicher selbstwirksam sein zu können.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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