Monat: März 2022

Jungen, die mit Puppen spielen? Ja, bitte!

Noch immer finden wir in vielen Spielzeugläden, Spielzeugprospekten und sogar Kinderzimmern eine Einteilung in „Mädchen- und Jungenspielzeug“: Für die Mädchen all die Dinge rund um Fürsorge wie Puppenküchen, Puppen und Kuscheltiere samt Puppenwagen und Puppentragetüchern, für Jungen die Technik- und Bauspielsachen. Und nicht nur dort wird oft eine grobe Unterteilung vorgenommen, sondern auch im Spielalltag, wenn einem Kind nach dem zugeordneten Geschlecht ein scheinbar passendes Spielangebot gemacht wird: „Geh doch mal in die Puppenküche spielen, Laura.“ „Spiel mal mit deinen Dinos, Linus.“ wird Kindern in Kindergärten und zu Hause gesagt und damit zugeordnet, welches Spielangebot scheinbar passend und richtig ist.

Aber mein Kind spielt eben lieber mit…

Und ja, vielleicht spielt Laura gerne mit Puppen und Linus mit Dinos und andersherum ist es nicht so. Aber durch die beständige Zuordnung ist es schwer zu entscheiden: Was ist Henne, was Ei? Unsere Kinder wachsen schon von frühen Jahren in eine Zuordnung hinein, die an vielen verschiedenen Stellen vorgenommen wird. Schon kleine Babybodys und Hosen sind bedruckt mit Autos oder Herzchen. Tatsächlich haben Kinder bestimmte Vorlieben, denen sie auch nachgehen dürfen. Die amerikanische Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Lise Elliot schreibt in ihrem Buch „Wie verschieden sind sie?“ hierzu (2010, S.162): „Auffallend ist aber, in welchem Maße auch heutige Eltern ihre Kinder, noch ehe sie auf der Welt sind, schon nach stereotypen Rollenmustern wahrnehmen. Dieser Tendenz entgegenzuwirken erfordert ständige Aufmerksamkeit. Am besten fangen wir damit an, wenn das Kind noch ganz klein ist und die geschlechtstypischen Merkmale kaum ausgeprägt sind. Bevor es später selbst darauf beharrt, dass es wie ein Mädchen oder wie ein Junge behandelt wird, können wir zunächst einfach nur wahrnehmen, wie es denn ist: kontaktfreudig, ungestüm, zappelig, fügsam, laut, still, wachsam, ernsthaft, unbefangen, heiter, neugierig, wuselig. Die Eltern sollten diese Phase, bevor die Geschlechtsidentität des Kindes sich entfaltet, genießen und den Signalen folgen, die ihnen sagen, was die ganz individuellen Bedürfnisse dieses kleinen Wesens sind.“

Es ist also okay, wenn Laura mit Puppen spielen möchte und Linus mit Dinos. Aber als Eltern können wir dennoch darauf hinwirken, bestehende Stereotypen nicht noch stärker zu zementieren und unsere Kinder offen zu begleiten. In obigem Beispiel ist das sogar ganz einfach möglich: Statt einen konkreten Spielvorschlag zu machen, können wir anregen „Laura/Linus, geh doch mit deinen Spielsachen spielen.“ Und wir können ein Spielangebot zur Auswahl stellen, das nicht nur den klassischen Stereotypen entspricht, sondern die Erfahrungswelt des Kindes so gestalten, dass es wirklich eine freie Auswahl hat zwischen Spielsachen, die wir selbst nicht als richtig oder falsch für dieses Kind bestimmen. Die generelle Auswahl der Spielsachen spielt hier eine wichtige Rolle.

„Kein Mädchen muss mit Autos spielen. Aber es sollte die Chance und die Möglichkeit haben, das zu tun, und erleben, dass das normal ist.“

Susanne Mierau „New Moms for Rebel Girls“

Der besondere Aspekt: Fürsorgespiele für Jungen

An stereotypen Spielangeboten gibt es viele Themen, die kritisiert werden können: Schönheitsschminkspiele für Mädchen, die schon früh das gesellschaftliche Schönheitsideal in Mädchen einbrennen mit langfristigen Folgen, Ausklammern von Mädchen aus MINT-Themen, Spiele, die Aggression und Kampf insbesondere für Jungen als normal und richtig darstellen – die Liste ist lang und vielfältig in ihren möglichen Auswirkungen.

An dieser Stelle soll ein besonderer Aspekt herausgegriffen werden, nämlich nicht das spezielle Angebot für ein Geschlecht, sondern die Vorenthaltung von Spielen, die sich um Fürsorge drehen, für Jungen. Während einerseits das Spielangebot so gestaltet sein kann, dass das Versorgen von Puppen und/oder Kuscheltieren mit Nahrung und Pflegetätigkeiten nicht frei zur Verfügung steht, werden Jungen manchmal auch dort, wo es diese Spielmöglichkeiten gäbe, bewusst hiervon abgehalten durch Aussagen wie „Komm, damit spielen Jungs nicht.“, „Du kannst doch keine Mama sein!“ oder „Geh mal lieber in die Bauecke.“

Doch für ihre Entwicklung ist es wichtig, dass auch Jungen Fürsorge erlernen. Das Sorgen für andere erlernen wir, es ist in großen Teil nicht in uns angelegt. Väter und Mütter müssen nach der Geburt gleichermaßen erlernen, ihre Kinder zu umsorgen: ihre Signale wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und dann passend zu beantworten. In der frühen Kindheit wird dafür bereits ein Grundstein gelegt. Besonders auch dafür, ob wir überhaupt denken, dass das eine Aufgabe ist, für die wir uns eignen, die wir ausführen können. Das Selbstbild wird auch in diesem Bereich geprägt durch die Erfahrungen, die Kinder machen. Werden Jungen immer wieder vom fürsorgenden Spiel ausgeschlossen und können darin keine Erfahrungen sammeln, wird ihnen damit signalisiert: Das ist nicht dein Aufgabenbereich. Einher damit geht manchmal auch eine unbewusste Abwertung der Fürsorgetätigkeiten: Das ist doch keine „richtige“ Beschäftigung! Mit solchen oft unbewusst vermittelten Botschaften prägen wir daher nicht nur das Selbstbild des Kindes, sondern nehmen auch Einfluss auf ein gesellschaftliches Bild vom Wert der Fürsorge.

Deswegen: Lasst Kinder – unabhängig vom zugeordneten Geschlecht – mit Puppen spielen. Lasst sie nachahmen, wie Babys gefüttert, getragen und umsorgt werden. Seid offen für die Fragen der Kinder und zeigt Anerkennung für dieses Spiel. Wir wissen, welch große Herausforderung – neben aller Liebe – Fürsorge für Kinder sein kann und sollten gemeinsam daraufhin wirken, dass diese Tätigkeit nicht nur von allen Menschen ganz selbstverständlich geleistet wird, sondern auch entsprechende Anerkennung von allen erfährt. – Und genießt es einfach, wenn euer Kind in das Spiel versunken ist.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.