„Damit will es mich nur ärgern!“ – Warum Kleinkinder nicht auf diese Art provozieren

„Das macht es nur, um mich zu ärgern!“ Diesen Satz haben wahrscheinlich schon viele Eltern irgendwann einmal gedacht. Vielleicht auch nicht als diese Aussage, sondern als zweifelnde Frage „Macht es das jetzt vielleicht doch nur, um mich zu ärgern?“ – Gerade wenn wir immer wieder aus dem nahen Kreis von erwachsenen Personen um uns hören, dass unsere Kinder uns mit ihrem Verhalten doch nur ärgern oder provozieren wollen, kommt dieser Gedanke oft irgendwann einmal als Zweifel auf: „Vielleicht ist ja doch etwas dran, dass…?“ Aber sehen wir einmal genauer hin:

Kleinkinder können noch nicht bewusst provozieren wie Erwachsene

Der Gedanke „Das macht es nur, um mich zu ärgern!“ bedeutet, dass das Kind weiß, dass eine Handlung von ihm im Gegenüber eine andere bestimmte Reaktion auslösen wird und dass es sich der Folge nicht nur bewusst ist, sondern auch billigend in Kauf nimmt, dass die Bezugsperson verärgert ist.

Natürlich verfügen Kinder im Kleinkindalter schon über ein Wissen von Ursache und Wirkung. Aber sie können sich noch nicht besonders gut in die Gedanken und Gefühle anderer Personen hineinversetzen und ihre eigenen Gefühle entsprechend regulieren, um mit ihrem Verhalten bei uns bewusst Ärger hervorzurufen. Wenn sich ein Kleinkind in einer Weise verhält, die uns verärgert, liegt das häufig daran, dass die Erwartungshaltung der Erwachsenen zu groß ist (beispielsweise können Kleinkinder je nach Temperament oft noch nicht lange Mahlzeiten im Restaurant oder beim Familienessen geduldig am Tisch durchhalten) oder dass sie mit ihrem Verhalten darauf aufmerksam machen wollen, dass ein Bedürfnis von ihnen nicht/nicht ausreichend erfüllt ist und sie ihr inneres Befinden nicht in Worten ausdrücken können, beispielsweise wenn wir einen langen Tag hatten, das Kind schon viel mitgemacht hat morgens, um sich fertigzumachen, später in der Kita kooperiert hat und dann nach dem Abholen noch „brav mit einkaufen soll“. Nun braucht es aber eigentlich etwas Autonomie oder auch Beziehung und Geborgenheit mit der primären Bezugsperson. Es wird wütend und schimpft laut, weil es nicht einkaufen will. Aber eigentlich geht nicht um das Einkaufen, sondern darum, dass es eben jetzt das Gewünschte nicht leisten kann, sondern ein anderes Bedürfnis hat, das endlich erfüllt werden will.

„Das ist so peinlich.“

Und da steht es also, das schreiende Kind. Vielleicht strampelt es vor Wut auch noch mit den Beinen. Und es ist uns unangenehm vor den anderen Menschen. Aber das Kind verhält sich nicht so, damit wir uns vor anderen unangenehm fühlen und nicht gut dastehen. Das Kleinkind verhält sich so, weil es gerade nicht anders kann. Denn jetzt gerade, in der Situation der Wut und Not kann es nicht so rational denken wie erwachsene Menschen es tun. Die emotionalen Gehirnregionen sind aktiv und überlagern das Nachdenken. Es ist nicht erreichbar dafür, dass wir daran appellieren, sich doch bitte nicht so peinlich zu verhalten, damit aufzuhören oder dass es doch wirklich eigentlich keinen Grund dafür gibt. Und vor allem: Es verhält sich nicht so, um uns zu beschämen, sondern weil es nicht anders kann.

Nur mein Kind kooperiert einfach nicht!

Eigentlich ist das Kind auf Kooperation und Teilhabe an der sozialen Gruppe interessiert. Das Bindungssystem funktioniert so, dass das Kind Schutz und Geborgenheit bei den Bezugspersonen sucht und sich durchaus an vielen Stellen anpasst, um den Bezugspersonen zu gefallen. Kinder kooperieren an vielen Stellen im Alltag, aber sie bleiben eben dennoch Kinder und sind keine Erwachsenen. Oft ist die Erwartungshaltung zu hoch und wir blicken in der Situation nur auf das, was jetzt gerade nicht stimmig ist, anstatt zu sehen, wie oft das Kind eigentlich heute oder generell eben doch kooperativ war. Wer sich wiederfindet in dem Gedankenkreislauf „Mein Kind ärgert mich, weil es einfach nie tut, was ich will!“ sollte sich eine Weile darauf fokussieren, ganz besonders auf die Kooperation zu achten: Wann hat das Kind mitgemacht oder vielleicht sogar von sich aus etwas getan für mich/die Situation? Wann hat es Rücksicht genommen nach Aufforderung oder vielleicht auch von sich aus, beispielsweise wenn es ein kleineres Geschwisterkind hat und abwartet? Unser Blick auf die Kooperation und das positive Verhalten des Kindes kann unsere Wahrnehmung verändern.

Wo kommt das Denken also her, dass Kleinkinder uns ärgern wollen?

Wir sehen also: Kleinkinder wollen uns nicht mit ihrem manchmal unangenehmen Verhalten ärgern oder vor anderen vorführen. Sie sind kleine Kinder, die sich noch in der Entwicklung befinden und genau jetzt genau richtig sind. Es ist sinnvoll, dass sie so reagieren, wie sie reagieren, weil sie noch kein großes Erfahrungswissen haben, auf das sie zurückgreifen können in schwierigen Situationen und weil sie in für sie schwierigen Situationen darauf angewiesen sind, von uns Hilfe zu bekommen. Hilfe, von der sie nach und nach in Kombination mit der eigenen Reifung lernen, die Hilfsangebote selbst umsetzen und anzuwenden.

Was also bleibt, sind die Fragen: Warum habe ich diesen Glaubenssatz verinnerlicht, dass ich jedes Verhalten des Kindes, das nicht meinen Vorstellung entspricht, als Ärgern und bewusste Aktion gegen mich interpretiere? Welches Bild von Kindern wurde da eigentlich in uns geprägt und welche Erwartungshaltung, die uns noch heute so sehr belastet? Wir haben eine Geschichte von Kindheit und Erziehung hinter uns, die auf Anpassung und gehorsam ausgelegt war und über geringes Wissen über kindliche (Gehirn-)entwicklung verfügte. Das alles lässt eine Erwartungshaltung gegenüber Kleinkindern entstehen, die nicht an ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen orientiert ist und zu negativem Erziehungsverhalten verleitet, das Kindern nachgewiesermaßen aber mehr schadet als ihnen ein gutes und gesundes Rüstzeug für die Zukunft mitzugeben.

Lassen wir diese Glaubenssätze also lieber hinter uns und denken wir bewusst in der nächsten anstrengenden Situation: „Ich weiß zwar noch nicht, was es will, aber mein kleines Kind will mich gerade nicht ärgern.“

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

3 Kommentare

  1. Ab wann sind Kinder keine kleinkinder mehr? Bei meinem im April 6 j werdenden sohn reflektiere ich das thema schon anders….

    • Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, die oben angebsprochen wird, beginnt mit etwa 4 Jahren. Kinder in der „Wackelzahnpubertät“ gehen nochmal anders um mit sozialen Auseinandersetzungen und sozialen Grenzen.

  2. Dankeschön für den Text, als Mama werde ich besonders durch den Umgang der Generation vor mir mit den Kindern ständig mit der Thematik konfrontiert… Dieser Gedanke ist so weit in unserer Gesellschaft und leider zum Teil auch noch unter Betreuungsfachkräften verbreitet, da würde ich manchmal am liebsten den Kopf in den Sand stecken 😀

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