Manchmal ist es mit der Eigenständigkeit der Kinder ziemlich schwer: Auf der einen Seite sind sie manchmal nicht da selbständig, wo wir es gerade wünschen und auf der anderen Seite machen sie Dinge, die wir gerade nicht wollen. Manchmal stellt sich uns deswegen die Frage: Mache ich eigentlich alles falsch? „Funktioniert“ unsere Erziehung nicht, weil das Kind gar nicht das tut, was es gerade tun soll?
Kinder haben einen eigenen Entwicklungsplan
Das Handeln von Kindern wird insbesondere durch ihren eigenen Entwicklungsplan geleitet: Neugierde ist der Motor ihrer Entwicklung und sie bewegen sich beständig voran in der Entwicklung – nach ihrer Agenda. Zwar gibt es bestimmte Zeitfenster, in der Kinder neue Fertigkeiten lernen, aber ob gerade die Feinmotorik, die Grobmotorik, die Sprache oder das Sozialverhalten im Vordergrund steht, kann bei verschiedenen Kindern gleichen Alters durchaus unterschiedlich sein. Auch das Temperament bestimmt dabei stark, wie sich das Verhalten des Kindes zeigt: Ist das Kind besonders extrovertiert, neugierig und geht freudig auf andere Personen und Erfahrungen zu? Hat es vielleicht auch wenig Gefahrenbewusstsein und zieht sich seltener zurück? Oder ist es genau anders und vorsichtig, wenig aufgeschlossen, fürchtet sich eher vor neuen Dingen und reagiert auf Gefahr schnell mit Rückzug?
Es kann deswegen durchaus sein, dass es in unseren Augen so erscheint, dass das Kind nicht das macht, was wir uns wünschen, weil es gerade in einem eigenen Entwicklungsthema steckt. Das Kind „trödelt“ auf jedem Weg, weil es wahlweise klettert, balanciert, rückwärts läuft oder schleicht. Wir nehmen wahr: „Das Kind hört nicht auf mich, wenn ich sage, es soll sich beeilen!“ In Wirklichkeit hat das Handeln des Kindes aber nichts mit unserer Ansage zu tun, sondern mit dem Entwicklungswunsch des Kindes. Würde es das eigene Verhalten reflektieren und benennen können, würde es sagen: „Ich baue gerade meine Motorik aus und übe balancieren und unterschiedliche Arten des Laufens!“
Kinder denken und fühlen anders
Und auch in Bezug auf die Gefühlswahrnehmung und -verarbeitung sieht es bei Kindern noch ganz anders aus als bei uns Erwachsenen. Kinder haben bis ins Schulalter hinein Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle. Gerade Kleinkinder sind noch besonders auf Co-Regulation angewiesen: Sie können noch nicht allein ihre Gefühle einordnen, verarbeiten und mit ihnen umgehen. Sie brauchen Erwachsene, die sie darin begleiten und den Gefühlen Worte geben, erklären, dass sie in Ordnung sind, die breite Palette an Gefühlen zum Leben dazu gehört, spiegeln, was sie wahrnehmen und ihnen schließlich gute Möglichkeiten vorstellen, wie sie diese Gefühle ausleben können: „Wenn du traurig bist, dann kann es sein, dass du weinen musst und es kann dir gut tun, von anderen in den Arm genommen zu werden.“ oder „Wenn jemand dich ärgert, wirst du wütend und deine Wut kannst du in Worte fassen, statt zu hauen oder du kannst ganz stark aufstampfen.“
Ihre Gefühle drücken Kinder lange anders aus als wir Erwachsene. Sie sind auf dem Weg, zu lernen, mit ihnen umzugehen. Auf uns mag es manchmal so wirken, als würden sie einfach nicht auf uns hören, wenn wir sagen oder denken: „Du musst doch deswegen nicht so ausflippen!“ Aber sie können wahrscheinlich noch nicht anders, als gerade jetzt genau so zu handeln. Es hat nichts damit zu tun, dass wir inkompetent wären als Eltern, wenn das Kind die eigenen Gefühle nicht so darstellt oder sich gefühlsmäßig so verhält, wie wir es wollen.
Hinter das Verhalten sehen
Es kann viele Gründe geben, warum Kinder sich nicht so verhalten, wie wir es uns wünschen. Das bedeutet nicht zwangsweise, dass etwas an unserem Erziehungsstil nicht richtig wäre oder wir als Eltern versagen, weil das Kind nicht auf das Wort folgt.
Wenn Kinder sich anders verhalten, als wir es wünschen und wir uns und unser Familienleben deswegen in Frage stellen, können wir unser Denken in drei Richtungen bewegen:
- Was steckt hinter dem Verhalten des Kindes? Ist es gerade ein besonderer Entwicklungsschritt, ein Entwicklungsimpuls? Oder ist es „einfach“ der Umstand, dass unsere Erwartungen zu hoch gehängt sind und wir vom Kind Dinge erwarten, die es noch gar nicht so leisten kann?
- Fordert das Kind mit seinem Verhalten nicht einen Entwicklungsraum, aber einen Beziehungsraum ein? Braucht es gerade mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung, weil es vielleicht innere oder äußere Rahmenbedingungen gibt, die es verunsichern, weshalb es mehr Nähe, Schutz und Zuwendung braucht und fordert dies durch sein Verhalten ein?
- Welche Glaubenssätze leiten uns gerade, zu denken, dass wir als Eltern versagen, wenn das Kind nicht folgt? Warum haben wir das Gefühl, schlecht zu sein, wenn gerade keine Harmonie herrscht zwischen unseren Erwartungen und denen des Kindes? Haben wir unrealistische Glaubenssätze in uns verankert, die uns den Alltag erschweren wie „Kinder müssen gehorchen“ oder „Kinder müssen das machen, was Erwachsene sagen“ oder auch „Kinder dürfen uns nicht auf der Nase herumtanzen und Nicht-Befolgen von Anordnungen ist Herumtanzen“.
Unrealistische Erwartungen an das kindliche Verhalten zu korrigieren ist einfacher, als eigene Glaubenssätze zu verändern. Wir können uns anlesen, was Kinder wann können und lernen und warum ihr Verhalten manchmal Ausdruck ihrer eigenen Agenda ist. Zu verstehen, dass das Verhalten des Kindes aber nicht zwangsweise uns Eltern in Frage stellt, ist viel schwerer, weil es oft tief in uns verwurzelt ist, dass Kinder folgen müssen und das Nicht-Folgen als Scheitern der eigenen Fähigkeiten wahrgenommen wird. Dabei steht beides nicht zwangsweise in einem Zusammenhang.
Dein Kind macht gerade nicht das, was du willst. Schau also hin, warum es das tut, was es tut: Was ist sein Antrieb, was könnte sein Ziel im Verhalten sein? Entwickelt es Fertigkeit, fordert es gerade Aufmerksamkeit und Beziehung ein? Welche der beiden Fragen die Ursache für das Verhalten auch sein mag, ist die Antwort auf das Problem des „falschen“ Verhaltens: Beziehung. Wir müssen versuchen, die Handlungen zu verstehen und erkennen, dass das, was gerade passiert, kein Machtakt des Kindes ist, sondern ein Entwicklungs- oder Beziehungsthema. Es ist normal, dass Kinder manchmal anders handeln als wir es erwarten oder wünschen.
Eure
Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de
Sehr schöner Artikel. Mit dem „Problem“ bin ich des öfteren konfrontiert. Meistens sitzt tatsächlich ein alter Glaubenssatz hinter dem Gefühl von dem Kind nicht „gehört“ zu werden.
Wie siehst du das wenn das Kind auf Betreuerinnen, weniger nahe Bezugspersonen hört, aber nicht auf die Eltern? Ist das ein bekannter Effekt oder sollten da tatsächlich die eigenen Kompetenzen hinterfragt werden?
Hallo Laura, ich habe mal irgendwo gelesen, dass es sogar ein besonderer Liebesbeweis ist, wenn nicht auf die Eltern hört. Es ist sich der Liebe der Eltern, im Gegensatz zu einer Erzieherin, sicher und kann sich so zeigen wie es ist bzw. „bocken“ ohne zu befürchten, dass es wegen deswegen nicht geliebt wird. Ich hoffe, dass ich das jetzt verständlich erklärt habe. Den Gedanken fand ich jedenfalls so toll und richtig. Seitdem ordne ich Gefühlsausbrüche oder „Ungehorsam“ den Eltern gegenüber ganz anders, nämlich als Liebes- und Vertrauensbeweis, ein.
VG
Hallo Laura,
ich habe mal irgendwo gelesen, dass es sogar ein besonderer Liebesbeweis ist, wenn das Kind nicht auf die Eltern hört. Es ist sich der Liebe der Eltern, im Gegensatz zu einer Erzieherin, sicher und kann sich so zeigen, wie es ist bzw. „bocken“ ohne zu befürchten, dass es deswegen nicht geliebt wird. Ich hoffe, dass ich das jetzt verständlich erklärt habe. Den Gedanken fand ich jedenfalls so toll und richtig. Seitdem ordne ich Gefühlsausbrüche oder „Ungehorsam“ den Eltern gegenüber ganz anders, nämlich als Liebes- und Vertrauensbeweis, ein.
VG
ich suche schon lange literatur genau zum thema „was kinder wann können können und was auf ihrem entwicklingsplan steht“ ganz besonders fürs vorschulalter. help!
Liebe Nina, ich finde ja Literatur schwierig, die genaue Pläne angibt, weil das wirklich oft sehr individuell ist. Ich persönlich arbeite daher – wenn eine Einschätzung gemacht werden sollte – eher mit Kuno Bellers Entwicklungstabelle. Die habe ich schon im Studium kennengelernt und finde sie bis heute hilfreich, weil sehr ressourcenorientiert auf einzelne Entwicklungsbereiche geschaut wird. Aber das ist eine pädagogische Einschätzskala.