Wenn wir von „Weisheit“ reden, denken wir meist an alte, erfahrene Menschen. Doch auch Kinder sind weise. Sie zeigen uns zum Beispiel, was sie fühlen, auch wenn sie dafür keine Worte haben. Und sie zeigen uns, was sie brauchen, auch wenn sie das nicht benennen können. Betrachten wir zwei Beispiele:
Warum Kinder gerne „verstecken“ spielen
Linas Oma muss sich verstecken und Lina findet sie mit einem lauten Jauchzen. Doch am wichtigsten ist es ihr, selbst gefunden zu werden. Schon als kleineres Kind hat sie öfters die Hände vor die Augen gehalten und gerufen: „Bin weg. Bin weg!“ Und wenn man ihr dann auf die Nase stupste, nahm sie die Hände weg, öffnete die Augen, strahlte und rief: „Daaaaaaaa!“.
Kinder möchten gesehen werden, Kinder müssen gesehen werden. Das Sehen und Gesehen werden gehört zu den spürenden Begegnungen, , zu den grundlegenden Interaktionen, mit denen sich Kinder in die Welt öffnen und mit ihr verbinden. Wenn Kinder sich nicht gesehen fühlen, dann schwächt das ihr Selbstwertgefühl, dann gehen sie verloren und fühlen sich verloren. Gesehen zu werden ist viel mehr, als dass jemand die Information erhält, dass Lina existiert oder Lina dies und jenes macht. Gesehen zu werden bedeutet, dass Lisa als Mensch wahrgenommen wird, dass jemand in Beziehung zu ihr tritt und sie wertschätzt. Wenn Lina gesehen wird, bedeutet das immer auch, dass Lina es wert ist, gesehen zu werden.
Der Sinn des Versteckens besteht vor allem darin, gefunden zu werden. Der Schriftsteller Friedrich Ani erzählt in einem Roman* von einem Kind, das aus einem Kinderheim wegläuft und sich mehrere Tage versteckt. Süden, der Held des Romans, findet den Jungen und versucht ihm danach zu erklären, warum er weggelaufen ist: „Du kamst dir vor, als wärst du unsichtbar, und da dachtest du: wenn mich eh niemand sieht, kann ich genauso gut ganz abhauen.“** Und er sagt an anderer Stelle: „Manche Menschen werden erst durch ihr Verschwinden sichtbar.“*** Wenn Kinder sich verstecken, wollen sie gefunden werden. Immer und immer wieder. Linas Oma spielt gern Verstecken. Sie weiß nicht, warum Lina so viel Spaß daran hat, aber das ist ihr egal. Lina freut sich und deshalb freut sie sich auch.
Warum manche Kinder beim Spielen nicht „verlieren“ können
Angela, ihr Bruder und deren Eltern spielen Karten. Angela und die Mutter spielen zusammen, der Bruder und der Vater sind ein anderes Paar. Der Kartenhaufen in der Mitte wird immer größer. Es wird immer spannender. Man muss sich merken, welche Karte schon gefallen ist, um selbst die richtige Karte abzulegen. Dann ist es geschehen. Die Mutter patzt. Angela hätte genau gewusst, dass man die Zehn nicht ausspielen darf, sie hat sich die früher im Spiel abgeworfenen Karten gemerkt. Der Bruder und der Vater bekommen den großen Haufen und gewinnen das Spiel mit großem Vorsprung. Der Bruder triumphiert lachend. Angela kommen die Tränen. Sie kämpft gegen ihre Tränen an, sie will nicht, dass die anderen denken, sie könne nicht verlieren. Sie läuft hinaus …
Alle Kinder gewinnen gerne. Es ist selbstverständlich. Zu gewinnen ist ein Erfolgserlebnis. Es zeigt, dass man etwas gut und richtiggemacht hat, etwas „kann“. Und es ist eine Bestätigung der eigenen Wirksamkeit. Ganz gleich, ob im Sport oder im Spiel.
Nicht verlieren zu können, ist etwas anderes als das Gewinnen. Hier geht es nicht so sehr um den spielerischen Gewinn, sondern um den Selbstwert, die Selbstbehauptung und die Selbstachtung. Die Selbstachtung eines Kindes entsteht immer auch im Vergleich mit anderen Kindern, im Vergleich mit Erwachsenen. Ist diese Selbstachtung gefährdet oder wird sie verletzt, dann kann aus dem Bedürfnis, gerne zu gewinnen, die Anstrengung werden, nicht verlieren zu dürfen.
Noah muss immer gewinnen. Er spielt nur mit anderen, wenn er auch gewinnen kann. Wenn er keine Chance hat zu gewinnen, weigert er sich zu spielen. Die anderen sagen ihm dann, dass er „doof“ sei. Sie wollen nicht klein gemacht werden. Sie wollen auch einmal groß werden. Noah findet sich selbst auch „doof“. Immer eckt er an. Nie bekommt er Wertschätzung, nur dann, wenn er gewinnen kann. Aber auch da ist die Wertschätzung halbherzig. Mit seinem krampfhaften Bemühen, immer gewinnen zu müssen, macht er sich keine Freunde. Noah fühlt sich klein und kleingemacht.
Ein Kind, das nicht verlieren kann, hat vielleicht schon einiges verloren. Noah hat seine selbstverständliche Selbstwertschätzung verloren – aufgrund welcher Erfahrungen auch immer. Je sicherer Kinder sich fühlen, desto leichter gehen sie damit um, ob sie gewinnen oder verlieren. Gewinnen oder verlieren ist dann eine Frage spielerischen Wettbewerbs und nicht der existentiellen Selbstbehauptung. Wenn Kinder nicht verlieren können, haben sie etwas verloren und daran muss die Hilfe ansetzen. Mit ihnen über das Gewinnen und Verlieren zu reden oder zu streiten, ist sinnlos. Der Sinn, nicht verlieren zu können besteht darin, dass sie uns zeigen, dass sie mehr Beachtung und mehr Wertschätzung brauchen.
Der verborgene Sinn kindlichen Verhaltens
Wenn Jonas im Kinderstuhl den Löffel auf den Boden wirft, steht meist ein Elternteil auf und gibt ihm den Löffel zurück. Jonas strahlt und lässt den Löffel wieder fallen … Und so geht es weiter. Das scheint für uns Erwachsene unsinnig zu sein. Da sich Jonas freut, spielen wir mit. Doch was „das soll“, ist unverständlich. Dabei liegt der Sinn auf der Hand: Kinder brauchen die Erfahrung, wirksam zu sein. Jonas ist wirksam. Er bewirkt, dass Mama oder Papa immer wieder aufstehen und ihm den Löffel aufheben und zurückgeben. Oft sind die „Großen“ wirksam und Jonas muss tun, was sie wollen. Hier ist es umgekehrt. Das ist der Sinn seines Verhaltens.
Das Wort „Sinn“ stammt aus dem mittelhochdeutschen „sin“ und bedeutet ursprünglich „Richtung“. Im Wort „Uhrzeigersinn“ ist diese Bedeutung noch enthalten. Der Sinn kindlichen Verhaltens bleibt manchmal verborgen, weil die Kinder keine Worte haben und ihre Absichten nicht erklären können. Dich sie zeigen uns in ihrem Verhalten die „Richtung“, in die sie gehen wollen, ihre Absichten, ihren Sinn. Auch wenn Angela im Kartenspiel nicht verlieren kann, zeigt uns das etwas: dass sie vielleicht schon etwas verloren hat, womit sie nicht umgehen kann, dass ihr etwas fehlt, dass sie Selbstwertschätzung und Würdigung braucht.
Auch der Sinn des Verstecken-Spielens ist klar: Kinder wollen gesucht werden, wollen gefunden werden, wollen Beachtung.
Die Weisheit der Kinder
Doch die Weisheit der Kinder geht noch darüber hinaus, dass sie uns den Sinn zeigen: Sie rufen in uns Gefühle und Befindlichkeiten hervor, die sie selbst spüren, für die sie aber keine Worte haben. Wenn Noah immer „gewinnen“ muss, dann ruft das bei den Eltern Unverständnis hervor: Was soll das, es ist doch nur ein Kartenspiel. Auch Noah versteht das nicht und ist verwirrt über sich selbst. Wenn Sie das Gefühl haben, bei Ihrem Kind „vor eine Wand“ zu laufen, können Sie ziemlich sicher sein, dass das Kind das gleiche Gefühl hat – vielleicht nicht Ihnen gegenüber, sondern gegenüber der Lehrerin, der Freundin oder einer anderen Person. Wenn Sie sich hilflos fühlen, liegt die Vermutung nahe, dass das Kind sich auch hilflos fühlt …
Solche Zusammenhänge zu erkennen, erhöht das Verständnis für Ihr Kind. Damit soll nicht gesagt sein, dass Sie alles akzeptieren oder verzeihen sollten. Verstehen ist nicht Akzeptieren. Aber Verstehen hilft, einen Zugang zum Kind zu finden. Wenn Sie sich hilflos fühlen, äußern Sie, dass Sie hilflos sind. Fragen Sie, ob Ihr Kind sich auch hilflos fühlt, ob es Hilfe braucht.
Den verborgenen Sinn kindlichen Verhaltens zu erkennen und die eigenen Reaktionen als möglichen Spiegel des kindlichen Empfindens zu beachten, ist nützlich, eine verständnisvolle Verbindung mit Ihrem Kind, mit Ihren Kindern aufzubauen oder zu behalten.
Sinn
Weisheit
Für alles Verständnis, aber nicht alles akzeptieren
Dr. Udo Baer ist Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL und u.a. Vorsitzender der Stiftung Würde. Auf Geborgen Wachsen schreibt er über die (Gefühls-)Welt der Kinder, ihre Gedanken und die sich ergebenden Herausforderungen. Mehr über dieses Thema findet sich in seinem neuen Buch „Die Weisheit der Kinder„
*Ani, F. (2011): Süden und die Schlüsselkinder. München
** a.a.O. Seite 166
*** Ani, F. (2011) Süden. München
Hallo, mein Sohn ist erst 3 Jahre und kann seit ich denken kann nicht verlieren. Auch die Geburt seiner Schwester, als er 28 Monate war, hat keine Veränderung gemacht. Der Vater kann übrigens auch nicht gut verlieren, ist dann auch frustriert und beleidigt. Ich dagegen sehe ein Spiel immer sehr locker und freue mich auch über andere. Vielleicht ist auch das Problem, das der Vater immer „richtig“ Spielen will und seinen Sohn auch nicht mit Absicht gewinnen lässt. Bei Memorie nimmt mein Sohn fast jedes Mal meinen Stapel, um einen großen Stapel und somit viele Punkte zu haben. Obwohl er auch ohne schummeln gewonnen hätte.
Hallo
schöner Artikel. Danke.
Mir kommt einfach beim Verlieren noch der Gedanke, dass Spiele, bei dem es einen Gewinner und Verlierer gibt, ein gewisses Alter der Kinder voraussetzten.
Ich weiss nicht genau, wo die Grenze liegt. Sie ist wahrscheinlich auch bei jedem Kind anders. Doch ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kindergartenkindern oft noch zu wenig reif sind für solche Spiele.
Für den Familienzusammenhalt finde ich es in dem Alter und auch später wichtig auch Kooperationsspiele zu spielen. Wie zum Beispiel „Obstgarten“ von HABA. DA gewinnen alle oder der Rabe.
Liebe Grüsse Eva
Toller Beitrag! Sehr interessant und Horizont erweiternd. Vielen Dank!
Vielleicht kommt das gerade falsch an bei mir. Aber solche Sätze triggern mich dann doch ein bisschen: „Noah hat seine selbstverständliche Selbstwertschätzung verloren – aufgrund welcher Erfahrungen auch immer.“
Also wenn ein Kind nicht verlieren kann, dann hat es ein Defizit? Dann fehlt ihm Selbstwertschätzung? Gehört das nicht auch ein bisschen zur normalen Entwicklung dazu, die ich begleiten muss? So wie die Autonomiephase eben auch. Unterschiedliche Kinder werden das unterschiedlich ausleben, weil sie unterschiedliche Temperamente haben. Deshalb nach Fehlern im Umgang mit dem Kind zu suchen oder zu unterstellen, dass ein Aufmerksamkeitsdefizit da ist, finde ich dann schon ein bisschen weit hergeholt.
Das ist ein Artikel, der für mich eine Schuldfrage aufkommen lässt. Das Kind macht etwas, das schwierig für das Umfeld ist. Früher war das dann sofort die Schuld des Kindes. Heute ist es dann die Schuld des Umfelds/der Eltern. Warum kann das Kind nicht einfach so genommen werden, wie es ist und begleitet werden, wie es ihm gut tut. Ohne, dass irgendwer Schuld daran hat und gleich der ganze Umgang mit dem Kind in Frage gestellt wird.
Oft sind es übrigens die kleineren Geschwister, die eh schon weniger können und zu langsam sind. Sie verlieren dann auch ständig und wollen dann auch nicht mehr. Da sollte man sich natürlich auch Alternativen überlegen wie zum Beispiel Kooperationsspiele. Oder dass die Kinder zusammen mal gegen die Eltern spielen und merken, wie es ist, als Team zusammen zu stehen.
Mir als Mutter tut es jedenfalls nicht gut, wenn von aussen Leute kommen und unterstellen, dass meinem Kind, das vielleicht im Moment nicht verlieren kann, Aufmerksamkeit von meiner Seite fehlt. Das ist eine Tendenz, die mir gerade nicht gefällt. Das Kind macht unerwünschte anstrengende Dinge. Dann wird die Schuld bei den Eltern gesucht, die nicht genug Aufmerksamkeit geben. Das finde ich persönlich genauso falsch wie die ewige Mär vom bösen Kind, das geformt und erzogen werden muss.
Danke auch vor allem für den Satz: „Verstehen ist nicht akzeptieren“. Wenn ich verstanden habe, akzeptiere ich nahezu immer, manchmal überschreite ich dabei sogar meine eigenen Grenzen. Ich beginne gerade zu verstehen, dass das Dahintersteigen beim kindlichen Verhalten zwar enorm wichtig und erhellend ist, aber dass es dann nicht vorbei ist. Es hilft keinem der Beteiligten wirklich weiter, einfach zu akzeptieren. Danke dafür.