Meine große Tochter – Über ein Jahr große Schwester sein

Geschister_Babybauch

Nun ist es bald ein Jahr her, dass mein zweites Kind zur Welt kam. Wieder ist es Herbst. Die Kastanien fallen, die Blätter werden bunt. Ich blicke aus dem Fenster und sehe, wie sich die Bäume lichten. In ein paar Wochen wird mein Blick auf den nackten Asphalt gehen und nicht mehr auf das dichte Grün der Baumwipfel. Obwohl der Rahmen immer wieder gleich ist, hat sich der Inhalt, das bunte Innenleben, verändert seit dem letzten Herbst. Ich habe zwei Kinder, nicht mehr „nur“ eines. Wir sind Eltern von zwei Kindern. Und meine Kinder sind Geschwisterkinder.

Es war ein langes Jahr, gemessen an Ereignissen. Die Geburt eines neuen Familienmitgliedes ist immer etwas Besonderes. Strukturen verändern sich, man muss sich neu finden.Beim ersten Kind ist es die Geburt einer Familie, beim zweiten Kind aber nicht weniger. Auch beim zweiten Kind müssen alle Familienmitglieder neu ihren Platz finden. Es sind nicht mehr beide Hände für ein Kind reserviert. Es muss geteilt werden: Mutter, Vater, Großeltern, Raum, Spielzeug.

Mit 3,5 Jahren ist meine Tochter große Schwester geworden. Als sie ihren Bruder zum ersten Mal sah, nackt nach der Geburt in unserem Bett liegend, zog sie sich aus und drückte sich mit aller Herzlichkeit an ihn. Es war der Beginn einer großen Liebe. Die Wochen danach waren sicher nicht einfach. Sie war nicht mehr das alleinige Kind. Aufmerksamkeit musste geteilt werden. Wir als Eltern mussten lernen zu teilen, sie musste lernen zu warten. Es gab Dinge, die das Zusammenwachsen erleichterten: Geschenke, die der kleine Bruder zur Geburt für die Schwester  mitbrachte, eine Haushaltshilfe für die ersten Wochen, Vater und Großmutter, die Spielzeit mit der Tochter verbrachten und Ausflüge unternahmen. Und trotz dieser Dinge gab es auch den Blick in ihren Augen, der uns sehr wohl sagte, dass sie auch die früheren Zeiten vermisste.

Das Bild einer Familie mit zwei Kindern wird in vielen Farben gemalt, nicht nur in rosa und rot. Es gab Momente, in denen sie im Spiel scherzhaft (?) sagte: „Und dann stecke ich den Bruder in einen Briefumschlag und schicke ihn wieder zurück.“ oder fragte, was denn wäre, wenn der Bruder in den Fluss fallen und ertrinken würde. Gedanken, die schwer sind und trotzdem erlaubt sein müssen. Auch das Negative braucht seinen Raum.

Oft genug gab es Momente, in denen beide Kinder weinten. Wen zuerst trösten oder beide gleichzeitig? Oder sie waren beide krank und ein Kind wurde zum Erbrechen über die Wanne gehalten während das andere mit Durchfall auf der Toilette gestützt wurde – wie viele Hände kann man haben? Oft genug musste die Tochter warten, wenn erst einmal der schreiende Sohn versorgt werden musste.

Und auch wenn es so viele Dinge gibt, die ich hier aufzählen könnte, die anstrengend, kräftezehrend, blöd oder ungewollt waren, gibt es so viele mehr, die ganz wunderbar waren. Besonders die kleinen, heimlichen Momente: Wenn sich Tochter und Sohn unbeobachtet fühlen und man durch den Türspalt sieht, wie die große Schwester den kleinen Bruder sanft streichelt. Wenn man erlebt, wie sie auf dem Spielplatz zu einem viel größeren Jungen sagt „He, pass auf meinen kleinen Bruder auf!“. Wenn man gerade dazu kommt, wenn sie versucht, ihn in ein Tragetuch zu binden oder mit der eigenen Brust zu stillen. Momente des Glücks, wenn zwei Kinder an einem Tisch sitzen, sich anschauen, hampeln und lachen – und man als Erwachsener nie, nie verstehen wird, warum.

Was meine Tochter in diesem Jahr gelernt hat, ist durch nichts anderes im Leben zu ersetzen. Keine Kindergartenerfahrungen können ihr zeigen, wie es ist, die Eltern zu teilen. Rücksicht nehmen Tag und Nacht, aber auch für seine eigenen Bedürfnisse einstehen, sie äußern. Für sich eintreten und dann auch wieder für einen anderen Menschen. Empathie entwickeln und zeigen. Die Große sein und sehen, was man alles schon kann im Vergleich zu einem kleinen Baby. Vorbild sein in so vielen Dingen und einem kleinen Menschen Dinge beibringen. Kuscheln mit einem Geschwisterkind, wenn man traurig ist. Sich gegen die Eltern „verbünden“ und gemeinsam Unsinn machen. Die positiven Eigenschaften des Geschwisterseins sind nicht an zwei Händen abzuzählen.

Mein Sohn ist in diesem einen Jahr groß geworden, doch noch viel mehr ist es meine Tochter.

 

9 Kommentare

  1. schnief… das hast du soooo so schön geschrieben! mein Mini kam vor 4 Wochen auf die Welt und trotz des Stresses freue ich mich so sehr auf die gemeinsame Zeit 🙂

  2. ༺❤༻Fusselmama༺❤༻

    Ein schöner Artikel, danke für die ehrlichen Einblicke und Eindrücke.

  3. Thi Huong

    Wirklich sehr schön geschrieben. Ich kann deine Gefühle nachempfinden, meine kinder haben den selben altersabstand, erst Mädchen dann junge.
    Und es fällt mir manchmal immer wieder schwer meiner Tochter gerecht zu werden, also sie nicht zu vernachlässigen und ihr die weitestgehend selbe Aufmerksamkeit zu geben, wie vorher. Und wenn es Tage gibt, wo ich mich sehr viel um den kleinen Bruder kümmern muss, dann tut sie mir im Nachhinein sehr leid.
    Ihrem Verhalten nach zu urteilen macht es ihr aber nicht so viel aus wie uns Eltern und dann bin ich sehr glücklich darüber so eine verständnisvolle Tochter zu haben.
    Ich wünsche dir weiterhin aufregende Zeiten mit deinen beiden Kindern. 🙂

  4. Karin Budeus

    Wunderschön geschrieben – mir sind echt die Tränen gekommen, da mir beim Lesen des Artikels mir schmerzhaft bewusst geworden ist, was unserer Tochter als Einzelkind alles entgangen ist und immer noch entgeht.

  5. Claudia Fritzsch

    danke für die liebevollen Worte…ich habe auch 2 Kinder (4 Jahre und 8 Monate) und ich konnte mich eben super in den Artikel hineinfühlen…danke

  6. nordicfamily

    Ja so ähnlich habe ich das damals auch empfunden, aber leider nie nieder geschrieben. Wichtig auch, für die Großen oder beide später einmal zu lesen udn zu erfahren, wie man sie damals erlebt hat. Danke für die gut ausgewählten Worte.
    Geertje von nordicfamily

  7. elternsein-kinderhaben

    Das ist so schön geschrieben und ich kann es nur unterschreiben: Die Großen sind die, die wirklich über sich hinauswachsen und da merkt man erst, wie schnell es geht. Erst nach abgeschlossener Familienplanung wurde ich wehmütig, denn dann kamen diese letzten Momente.

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