Wenn davon gesprochen wird, dass Eltern nicht schimpfen sollen, wird das häufig missverstanden. Gemeint ist dabei nicht, dass Gefühle wie Wut, Überlastung, Ärger oder Hilflosigkeit „einfach“ unterdrückt werden sollen oder dass das Kind tun und lassen kann, was es will. Vielmehr geht es darum, dass Eltern in Selbstberuhigungsstrategien einsetzen können, um angemessen zu reagieren – diese fehlen aber häufig. Sie auszubauen, hilft nicht nur im Alltag mit Kindern, sondern stärkt auch andere zwischenmenschliche Beziehungen – sowohl im privaten Umfeld als auch im Berufsleben.
Gewalt vermeiden
„Nicht schimpfen“ bedeutet nicht, dass Kindern kein Feedback gegeben oder keine Grenzen gesetzt werden dürfen. Auch Ärger darf gezeigt werden. Entscheidend ist jedoch, wie wir mit unseren Empfindungen umgehen: sozialverträglich, respektvoll und ohne das Kind zu ängstigen. Denn emotionale Gewalt ist ebenfalls Gewalt und kann beim Kind langfristige Spuren hinterlassen. Kinder haben laut § 1631 BGB ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung: „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Dazu gehört auch, nicht verbaler Gewalt ausgesetzt zu sein. Dieses Recht basiert auf Erkenntnissen aus verschiedenen Forschungsbereichen, die zeigen, dass auch seelische Gewalt negative Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung hat.
Warum machen wir das, wenn wir es nicht wollen?
Viele Eltern spüren unmittelbar nach einer Situation, in der sie ihr Kind angeschimpft oder gar angeschrien haben, dass dieses Verhalten nicht richtig war. Scham stellt sich ein. Im besten Fall folgt eine Entschuldigung und der Vorsatz, es beim nächsten Mal besser zu machen. Doch oft bleibt es nicht bei einem Ausrutscher – das Muster wiederholt sich. Warum passiert uns das, obwohl wir es eigentlich vermeiden wollen?
Eine übermäßige Reaktion hängt häufig mit der hohen Stressbelastung im Alltag zusammen. Unser Leben ist geprägt von Dauerstress und Reizüberflutung. Gehirn und Körper sind permanent damit beschäftigt, diesen Stress zu verarbeiten. Studien zeigen eindeutig: Stress wirkt sich negativ auf Erziehungsverhalten aus. Je höher die Belastung, desto schwerer fällt es, Kinder geduldig und einfühlsam zu begleiten.
Prägungen und Erwartungen: Unsichtbare Stressverstärker
Neben Alltagsstress, akuten Belastungen und dem individuellen Temperament des Kindes gibt es einen weiteren entscheidenden Faktor: unsere eigenen Prägungen. Dazu gehören sowohl genetische Voraussetzungen im Umgang mit Stress als auch die Erfahrungen aus unserer eigenen Kindheit und Erziehung. Besonders das Thema Scham spielt hier eine große Rolle. Viele von uns haben verinnerlicht, dass wir uns schlecht fühlen, wenn unser Kind sich „unangemessen“ verhält – insbesondere in der Öffentlichkeit. Dieses Schamgefühl führt oft dazu, dass wir überreagieren.
Was Eltern konkret tun können
Um weniger stark zu reagieren, sollten Eltern an mehreren Punkten ansetzen:
- Stress reduzieren: Aufgaben minimieren, Anforderungen hinterfragen und Perfektionsansprüche loslassen.
- Selbstregulation stärken: Frühzeitig wahrnehmen, wann Ärger aufsteigt, und passende Techniken einsetzen, wie Atemübungen, Körperwahrnehmung, Entspannungs- oder Meditationsübungen.
Diese Strategien helfen, gelassener zu bleiben – nicht nur im Umgang mit dem Kind, sondern auch in anderen Lebensbereichen.
Und was ist jetzt mit den Grenzen?
Kinder brauchen Orientierung, aber sie müssen dabei weder beschämt noch verängstigt werden. Grenzen lassen sich klar und respektvoll kommunizieren – ganz ohne Schimpfen oder Schreien. Auch wenn viele von uns durch die eigene Kindheit geprägt sind und glauben, dass strenge Worte oder lautes Verhalten nötig seien: Das ist weder die einzige noch die sinnvollste Methode. Kinder können Regeln, soziales Verhalten und den Umgang mit Fehlern auch ohne Druck und Angst lernen – oft sogar besser, weil sie nicht unter dem Stress von Schimpfen und Schreien stehen.
Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.
Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de