Aggressionen bei Kleinkindern verstehen und begleiten

Wenn das eigene Kind aggressives Verhalten zeigt, ist das für Eltern oft schwierig: Sie denken, dass andere sie selbst verurteilen und als schlechte Eltern betrachten, dass andere Menschen das Kind negativ betrachten und in eine gedankliche Schublade stecken oder schließen sich selbst der Angst an, dass das Kind ein negatives Verhalten entwickelt mit weitreichenden Folgen. Die Folge dieser Denkmuster ist oft, dass versucht wird, das Verhalten des Kindes zu stoppen, dabei aber die Ursachen nicht in den Blick genommen werden und auch kein Ausweg aufgezeigt wird, wie mit dem eigentlichen Gefühl, das dahinter steht, umgegangen werden kann.

Kindliche Aggression ist weniger schlimm als ihr Ruf

Dabei ist zunächst einmal wichtig zu betrachten, dass kindliche Aggression weniger schlimm ist als ihr Ruf: Nur weil das Kleinkind Wut durch Aggression äußert, bedeutet es noch lange nicht, dass generell etwas mit der Erziehung nicht stimmen würde oder dem Kind. Zunächst einmal ist es völlig normal, dass Kleinkinder ihre Empfindungen wie Wut, Frustration, Enttäuschung, Ekel, Abwehr und anderes stark von sich weisen. Eigentlich sogar ist Aggression ein wichtiger Aspekt unseres menschlichen Erlebens, weil sie uns Kraft gibt, um Grenzen zu setzen, für uns selbst einzustehen oder auch für andere. Sie ist ein Teil unseres Schutzsystems.

Das Kleinkind denkt noch nicht wie wir Erwachsene über Gefühle und Handlungen nach, sondern handelt impulsiv. Das ist sinnvoll, da das Kind noch nicht über ausreichende Erfahrungen verfügt, um Situationen miteinander zu vergleichen und abzuwägen.

Susanne Mierau, Geborgene Kindheit, S. 124

Durchaus gibt es Kinder, die aggressiver sind als andere, was u.a. genetisch bedingt sein kann. Die Neurobiologin Dr. Nicole Strüber (2019) erklärt, wie sich diese genetische Disposition negativ auf Beziehungen und auch auf die ersten Bindungen auswirken kann. Doch gerade Kinder, die ein stärker aggressives Verhalten zeigen, brauchen ein feinfühliges Begleiten, um ihren Stress zu mindern und Handlungsstrategien zu lernen, um mit ihren Impulsen gut umgehen zu können.

Aggression als Schutzstrategie für Grenzen und Zuwendung

Auch Kleinkindern dient Aggression als Schutz: Als Schutz nach außen, um eine Grenze zu ziehen, wenn sie ihre Grenze bedroht fühlen, aber auch als Schutz nach Innen, wenn Aggression als Ausdruck benutzt wird, um etwas einzufordern wie beispielsweise elterliche Aufmerksamkeit oder Verbindung auf andere Art und Weise, beispielsweise auch mit anderen Kindern. Manchmal fehlen Kleinkindern noch Worte und Handlungsideen, wie sie ihre Bedürfnisse umsetzen können – sowohl beim Kind, das zubeißt, um sich wehren, als auch beim Kind, das zubeißt, weil es in Kontakt treten will.

Wir können darauf achten, dass unser Kind sich und andere nicht verletzt. Wir können versuchen, seine Gefühle durch unseren körperlichen Ausdruck zu spiegeln. Wir können unserem Kind aufrgund des Wissens, was ihm hilft und was es mag, eine sanfte Unterstützung sein und dabei helfen, aus der Wut herauszukommen, denn das ist für viele Kinder im Vorschulalter noch sehr schwierig. Und wir können unser Kind danach in die Arme nehmen und darüber sprechen.

Susanne Mierau, Geborgene Kindheit, S. 125

Verständnis entwickeln

Die bedeutsamen Fragen sind also auch hier wieder: Welche Absicht, welches Gefühl, welches Bedürfnis steht hinter dem Verhalten meines Kindes? Will es sich gerade abgrenzen? Wenn ja, warum und wovon? Oder will es in Verbindung treten? Wenn ja, mit wem und warum? Von diesem Punkt aus können wir dann überlegen, welche Impulse wir für die Begleitung anbieten: Wir können in die Situation in Worte fassen und dann Ideen anbieten, wie auch gehandelt werden kann. Der sozial akzeptierte Ausdruck von Gefühlen wird über viele Jahre erlernt anhand von Vorbildern und durch die Begleitung durch die nahen Bezugspersonen. Kleinkinder beginnen gerade erst damit, ihr Handlungsrepertoire auszubauen und die vielen Möglichkeiten zu verinnerlichen, wie mit bestimmten Empfindungen umgegangen werden kann. Statt ihnen nur zu sagen, was sie nicht tun sollen und sie dann mit ihrem Empfinden allein zu lassen, brauchen sie ihre nahen Bezugspersonen, die ihnen das eigene Empfinden erklären, ihm einen Namen geben und aufzeigen, wie sie damit umgehen können. Lehnen wir nur ihr Verhalten ab, kann das Kind das nicht verstehen und bezieht die Ablehnung auf sich als Mensch: Ich darf so nicht sein, mit diesem Gefühl werde nicht akzeptiert, ich muss sie verstecken, um von den nahen Bezugspersonen geliebt zu werden.

Besonders bedeutsam ist es also, das aggressive Verhalten des Kindes nicht falsch zu interpretieren: Es ist kein Machtspiel, es stellt uns nicht infrage. Es ist nicht zwangsweise ein Ausdruck für schlechtes Erziehungsverhalten und will uns deswegen nicht beschämen vor anderen. Es ist bedeutsam, genau hinzusehen, die eigentliche Absicht des Kindes zu ergründen und dann zielgerichtet darauf zu handeln, damit das Kind wirklich lernen kann, immer besser mit den eigenen Impulsen umzugehen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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