Hinsehen

Da sitze ich am Abend da mit Kopfschmerzen und bin erschöpft vom Tag, denn es gab viel Streit zu schlichten und viel Einfühlungsvermögen war gefordert. Der Babysohn wollte viel getragen werden und war unleidlich, das große Kind hatte keine Lust auf Schularbeiten und der mittlere Sohn wurde so sauer, dass auf einer Weihnachtsfeier der Schule nur die Schulkinder beschenkt wurden, dass wir die Schulfeier früher verlassen mussten, was wieder das Schulkind sauer machte und schließlich auch das Baby unruhig werden ließ.

Das Abendessen war kurz, denn alle waren müde und erschöpft und schlecht gelaunt und beim Vorlesen der Gutenachtgeschichte wurde darüber geschimpft, dass sie viel zu kurz sei. Und die Gutenachtlieder wären auch heute falsch. Nun schlafen sie, meine drei Kinder. Und ich denke einen kurzen Augenblick darüber nach, wie anstrengend alles war.

Dann sehe ich mir die Nachrichten des Tages an, die immer wieder zu lesen sind. Und ich denke: Ja, Dein Tag war aus Deiner Perspektive anstrengend. So, wie Deine Tage eben manchmal anstrengend sind. Aber ich habe ein Zuhause, hatte drei Mahlzeiten und Kaffee und Kekse. Ich habe meine Kinder und meinen Mann und meine Freunde. Ich habe eine warme Wohnung und fürchte nicht um unser Leben. Es geht mir so gut, selbst wenn es mir schlecht geht. Das alles bedeutet nicht, dass es mir nicht subjektiv auch schlecht geht oder schlecht gehen darf. Aber mit etwas Abstand betrachtet geht es mir doch ziemlich gut.

Ich streichel über den warmen Kopf meines Babys, das so sicher und warm und weich in meinem Arm liegt und denke an die Menschen, die genau dieses Gefühl der Sicherheit und Wärme jetzt nicht haben. Eine Freundin hat heute den Artikel „7 real things you can do right now about the catastrophe in Aleppo“ geteilt. Es geht um Menschen wie wir, um Menschen mit Kindern. Alles, wofür wir hier einstehen, die Sicherheit, die Geborgenheit, das Glück wurde diesen Menschen genommen. Wenn unsere Botschaft Menschlichkeit und Liebe ist, dürfen wir nicht wegsehen, denn dieses Ziel gibt es nicht nur für uns selbst und unsere Kinder. Wenn unser Wunsch ist, unseren Kindern eine gute Zukunft in einer schönen Welt zu ermöglichen, können wir uns dies nur für alle Kinder gleichzeitig wünschen, denn wir sind alle Teil dieser einen Welt. Und nicht zuletzt deswegen müssen wir hinsehen und wir müssen etwas tun für diese Menschen, für diese Kinder und ihre Eltern, die sie wie wir in ihren Armen halten und ihnen wünschen, dass irgendwie alles gut wird. Und wir alle können etwas tun, jeder ein Stück, das irgendwie möglich ist. Und nicht wegsehen ist schon ein Teil davon.

Eure

8 Kommentare

  1. Vielen Dank für den so wichtigen Text und überhaupt für Deinen sehr inspirierenden Blog. Ich finde hier immer so viele gute Denkanstöße, die mich lange begleiten. Besonders heute spricht es mich an und geht mir nah. Ganz lieben Gruß

  2. Du hast völlig Recht mit dem Aufruf zum Hinsehen wie der aktuellen Tragödie. Und dennoch ist es fast unerträglich mit dieser Ohnmacht durch den Tag zu gehen. Wie sehr wünsche ich allen Menschen ein Leben in Sicherheit.

  3. Vielen Dank, das war ein schöner Text und Du hast vollkommen Recht – es geht um die Perspektive. Natürlich können wir müde und erschöpft sein und auch mal schi,pfen, aber gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass unsere Umstände so unendlich viel besser als für so viele andere Familien auf der Welt, dass wir bei allem vermeintlichen Streß uns immer auch sehr glücklich schätzen sollten!! Ein schöne restliche Weihnachtszeit und viele Grüße, Anna

  4. Antje Müller Meyer Lehmann

    Mir geht es mit Nachrichten def. schlechter.. Ich kann nicht das ganze Leid der Welt ertragen. Nachrichten sind schlechte Nachrichten + Sport + Wetter. Das Video von der tretenden Reporterin am Grenzübergang hat mich damals zum weinen gebracht. Meine Meinung das jeder Mensch ein Recht darauf hat auf unserem Planeten zu Leben wo er möchte solang er dies nicht gewaltsam umsetzt lasse ich bei meiner Wahl sprechen. Effektiv beeinflussen kann ich Handlungen nicht, schon in meinem Büro komme ich mit Argumenten nicht weiter. Der Instinkt des Menschen gegen Fremdes steht der Menschlichkeit im Weg. Aber täglich Abgründe der Menschheit mit dem Opernglas betrachten hilft mir in meiner Entwicklung nicht weiter. Es macht die Menschen traurig, wütend, verzweifelt oder radikal. Dankbarkeit für die eigene Sicherheit ist die Ausnahme, das Gegenteil suggerieren die Nachrichten.

  5. Anirahtak Gnilebül

    Danke für diesen schönen Text! Ich habe in den letzten Tagen viel über Aleppo und das unglaubliche, unendliche Leid dort gelesen und nachgedacht und es war mir klar, dass ich auch irgendwie einen Beitrag leisten möchte, den Menschen zu helfen. Nicht nur darüber nachzudenken, zu lesen, zu reden, sondern was zu tun. Vielleicht hättet ihr zu folgendem auch die Möglichkeit… Die Flüchtlingspaten Syrien ermöglichen Angehörigen syrischer Flüchtlinge unbürokratisch und direkt die Ausreise aus dem kriegsgebeutelten Land und Leben und Integration bei uns. Ich finde das unterstützenswert und habe deshalb eine monatliche Patenschaft übernommen. Bitte informiert Euch über die
    Initiative auf http://www.fluechtlingspaten-syrien.de und macht auch mit! Das wäre toll!

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert