Sich auf das Baby einlassen

Kürzlich war ich bei einer Familienfeier eingeladen. Dort war eine Bekannte mit einem noch sehr kleinen Baby. Staunend wurde sie umrandet und befragt, ob der Kleine sie denn auch schlafen lasse, ob er Mama auch mal eine Auszeit gönnen würde. Ob er sich denn schon gut ins Familienleben eingefügt hätte? Diese Mutter saß dort und sagte auf die vielen Fragen einfach nur „Er kommt noch an.“ – Damit brachte sie es eigentlich auf den Punkt, denn es geht nicht darum, in wie weit sich das Baby an unseren Rhythmus anpasst, sondern wie weit wir ihm den Raum geben, anzukommen, uns kennen zu lernen und sich aufeinander einzulassen. Und aufeinander einlassen, das bedeutet zunächst, dass sich Eltern auf das Baby einlassen müssen.

In unserer Gesellschaft sind wir es gewohnt, dass sich das Leben um uns Erwachsene dreht, dass wir den Takt vorgeben. Im Alltag, bei der Arbeit. Wir strukturieren, wir planen. Und dann werden wir Eltern: Wir bekommen Kinder hinein in diese Struktur. Um uns herum dreht sich das Leben weiter und die Menschen um uns herum fragen, ob wir denn auch weiterhin gut organisiert wären, ob wir den Alltag mit Kind gut hinbekommen, ob das Baby gut – d.h. an unseren Schlafrhythmus angepasst – schläft. Es wird erwartet, dass wir einen Rahmen bilden, in den das Kind hinein passt, in das es sich einfügt.

Aber Babys passen sich nicht einfach so ein. Sie sind kleine Menschen, die aus einer anderen Welt kommen. Aus einer Welt, in der sie jederzeit alle Bedürfnisse erfüllt bekommen haben: Eine Welt, in der es warm und weich war, in der sie jederzeit mit Nahrung versorgt wurden, in der sie ständigen Körperkontakt hatten, in der sie rund um die Uhr Nähe verspürten. Was sie brauchten, hat sich erfüllt.

Nach der Geburt ist erst einmal alles neu. Gelernt wird nun, wie man sich an die neuen Bedingungen anpassen kann, an die Schwerkraft, an kühle Luft, an Hunger, an fehlenden Körperkontakt. Aber Babys können sich nicht ohne weiteres an diese Dinge anpassen. Sie haben innere Bedürfnisse, die sie nicht selbst befriedigen können: Sie können sich keine warme Decke über die freigestrampelten Beine ziehen, können sich kein Sandwich in der Küche machen oder eine frische Windel anziehen. Um ihre inneren Bedürfnisse zu befriedigen sind sie darauf angewiesen, dass wir sie von außen regulieren. Sie brauchen uns Erwachsene, um zu verstehen, was in ihnen vorgeht und wie man auf diese Gefühle, die sie vielleicht vorher nicht kannten, richtig reagiert.

Sie lernen, dass wenn im Bauch ein Gefühl der Unruhe aufkommt und sie mit dem Mund schmatzen und an den Händen nuckeln, ihre Bezugsperson merkt, dass es nun Zeit ist, dass sie wieder Nahrung erhalten. Sie lernen dadurch, dass das Gefühl, was sie haben, Hunger ist und es durch Stillen oder Nuckeln an der Flasche beseitigt wird – weil sie eine verlässliche Person an der Seite haben, die ihnen dabei hilft. Wenn sie sich unwohl fühlen, weil sie nass sind, lernen sie, dass sie sich besser fühlen, wenn sie wieder trocken gelegt werden – von einer Person, die ihre Signale richtig gedeutet hat. Sie lernen jeden Tag viel von der Welt und über sich. Sie kommen an, Stück für Stück. Und das tun sie, weil jemand da ist, der sie ab holt, der sich auf die einlässt. Jemand, der versucht, sie zu verstehen und auf ihre Bedürfnisse eingeht. Jemand, der ganz bedingungslos da ist und zu hört.

Babys lassen sich nicht in Zeitfenster passen, nicht in Rahmen einfügen. Sie kommen in dieser Welt an mit ihrem ganz eigenen Rhythmus, mit ihrer eigenen Zeit. Und sie lehren uns damit, dass es in dieser Welt eben auch eine Phase gibt, in der wir aus den Strukturen ausbrechen, in der wir lernen, Dinge so anzunehmen, wie sie sind. Wir lassen uns auf einen neuen Menschen ein, lernen ihn kennen. Wir betrachten ihn in seiner Ganzheit, in seiner Art zu sein. Wir lernen, unser Leben aus den alten Bahnen auszubrechen und schlafen, wenn das Baby schläft. Wir laden Menschen zu uns ein, wenn es zum Rhythmus des Babys passt und nicht, wenn es sich in den Zeitplan der anderen einfügt.

Um das zu können, dürfen wir uns nicht an Zeitfenster und Richtlinien halten. Staunend liegen wir neben einem kleinen neuen Menschen und beobachten ihn, beobachten die kleinen Finger, wie sie sich bewegen und strecken, beobachten den kleinen Mund, der sich öffnet und schließt. Wir verlieren das Zeitgefühl und genau dann haben wir gelernt, uns einzulassen.

 Wann habt Ihr von Euren alten Strukturen los gelassen?
Eure

Susanne_clear Kopie

Merke Dir diesen Artikel auf Pinterest

10 Kommentare

  1. Wirklich schön auf den Punkt gebracht! Nächstes Mal frage ich lieber, ob das Baby schon in dieser Welt angekommen ist.
    Lg Petra

  2. fraukraehe.blogspot.ch

    Liebe Susanne,
    Wie wohltuend, diese deine Worte zu lesen. Genau deshalb habe ich bei der Geburt meines zweiten Kindes alle „Störfaktoren des Kennenlernens“ ausgeschaltet: unter anderem keine Besuche (ausser von meiner engsten Familie) im Wochenbett, Betreuung von mir und dem Kind nicht durch Spitalpersonal, sondern ausschliesslich durch meine Hebamme, Verzicht auf gängige Infrastruktur (Säuglingszimmer, Kinderbettchen, Essenszeiten,…). Oh, war das eine verzauberte „zeitlose“ Zeit mit meinem Mädchen, welche ich mir noch lange, über mehrere Wochen, habe erhalten können. Und ich habe nie zuvor ein zufriedeneres, glücklicheres Baby kennengelernt. (Ganz wichtig: Das ist keine Wenn-Dann-Schlussfolgerung. Trotz diesen und anderen Vorkehrungen hätte sie geplagt sein können von Anpassungsschwierigkeiten verschiedenster Art. Aber ich nehme dennoch an, dass genau diese Zeit, Sensibilität, Zugewandtheit es dem Mädchen enorm erleichtert haben, gut anzukommen in dieser Welt.).
    Danke für deine unaufgeregten, aber deutlichen Worte. Viel zu oft kämpfe ich immer wieder in Gesprächen gegen die Ansicht, dass sich Babys/Kinder anzupassen haben an unsere Geschwindigkeit, unsere Vorstellungen, unseren Rhythmus.
    herzlich, Martina

  3. Liebe Susanne,
    wunderbare Worte, die so ausformuliert meine Sicht noch einmal stärkt. Auch sensibilisieren mich die Worte für alle Neuankömmlinge in meiner Umgebung, die noch kommen. Viele Menschen suchen nur Kontakt zu Babies weil sie das neue kleine Wesen spannend finden und stellen dann so unpassende Fragen, bspw. im Supermarkt an der Kasse…. . Wenn die Menschen mehr ihr eigentliches Interesse ausdrücken würden, wäre das viel besser. „Es ist schön zu beobachten… “ o.ä. Die nicht Wohlmeinenden oder Besserwissenden gibt es natürlich manchmal auch… „Je älter die werden, desto schlimmer wirds.“
    Gut, dass es deshalb solche wohltuenden Worte gibt, die das schnell wieder ausgleichen.
    Grüße
    Jennifer

  4. Sehr gut geschrieben.

    Ich habe meine Ordnung für eine Zeit lang aufgegeben. Mittlerweile ist der Minimann bald 1 Jahr und hat aktuell gerade den Staubsauger für sich entdeckt.

    Jetzt kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie unser Bad ohne Wasserspielzeug aussehen würde und wahrscheinlich würde ich mich abends langweilen, hätte ich nicht eine große Menge an Spielzeug und rausgekramter Sachen, zum wegräumen.

    Es gibt eben diese Standard-Sätze/Fragen, denen man sich stellen muss. Bzw. die nur durch (noch) Unwissenheit gestellt werden. Hauptsache man findet für sich und das Baby den richtigen Weg.

    Ach und – ich bin weniger hektisch. Eigentlich gar nicht mehr. Das war ich schon während der Schwangerschaft nicht mehr.

    Liebe Grüße,

    Bell

  5. So wahre Worte!
    Helena wird nun ein Jahr alt. Und wie schwierig war es, immer wieder herunter zu beten, dass ich dieses Jahr (mindestens) völlig nach ihren Bedürfnissen leben werde. Keine unnötigen Babysitter-Abende, so lang sie noch so anhänglich ist, keine Mittagsschlaf- oder Morgenschlafunterbrechungen, weil irgendjemand irgendwas mit mir unternehmen wollte, keine Einschlafübungen oder Schlafzeiten-Anerziehung nur weil „man das so macht“, keine Stillrhythmen, weil das angeblich besser für ihre Alltagsstruktur ist.
    Nein. Vielleicht bin ich da etwas zu extrem, aber nur in sehr seltenen Fällen setze ich MEINEN Tagsplan ohne wenn und aber durch.
    Der Trugschluss vieler: SIe ist anhänglich, sensibel und fremdelt etwas dolle. Man wirft mir vor, dass das an meiner völligen, bedingungslosen Fürsorge ihr gegenüber liegt. Andersherum wird aber ein Schuh draus: Ich umsorge sie so extrem, WEIL sie so sanft ist, wie sie ist.
    Und ich werde es bei jedem Kind wieder so machen.
    Denn nach einem Jahr habe ich hier neben all der Empfindlichkeit auch ein fröhliches Baby, das lauthals lachen kann wegen der kleinsten Dinge, mir offensichtlich aus tiefstem Herzen vertraut und jeden Tag aufs neue mich und ihre Umgebung verzaubert!!!

    Ende 😉

  6. mellyweber

    Oh ja, dem Baby Zeit zu geben ist so wichtig. Ich fand das beim ersten kind leichter. Wir haben uns wochenlang auf der Couch eingenistet und sonst nicht viel gemacht. Jetzt beim 2. ging es schneller wieder zurück in alte Strukturen, auch wenn mein Mann zum Glück von Geburt ab 2 Monate Elternzeit hatte, um voll und ganz für die Große da zu sein.
    Dennoch ist es im Alltag schwieriger sich mit dem Baby einfach mal am Nachmittag hin zu legen. Allerdings darf er auch mit 6 Monate schlafen wie und wann er will.

  7. Titantinas Ideen

    Schöne Worte mit Tiefgang! Als vor 6 Jahren meine größere Tochter geboren wurde, habe ich mich intuitiv vollkommen an ihren Bedürfnissen ausgerichtet, was nicht immer leicht war, da sie ein klassisches Schreibaby war, und ich mitunter den einen und anderen Tipp von meinen Mitmenschen, die es nur allzu gut mit uns meinten *räusper* abzuwehren versuchte, und je mehr ich mich in die Diskussionen einließ, desto energieloser und hoffnungsloser fühlte ich mich. Das ist auch der Grund, warum mich die Aussage der Mutter, die du beschreibst, so nachdenklich macht. Inzwischen habe ich viel an mir gearbeitet, und würde heute um einiges gelassener reagieren, das macht nicht so verletzlich und schafft Distanz, wo es nötig ist. Mein kleiner Sohn ist 5 Monate, und ich bin froh, meine Entscheidung, wieder den Weg, sich auf das Baby ohne wenn und aber einzulassen, einzuschlagen, getroffen zu haben! Liebe Grüße,Tina

  8. Ich habe bereits in der Schwangerschaft von meinen Strukturen los gelassen und sobald mir die Wichtigkeit der Wochenbettzeit bewusst war auch kommuniziert dass ich mich in dieser Zeit nur nach meinem Kind und mir richte und es wenig Raum für Besuche geben wird.
    Dadurch konnte sich mein Umfeld darauf einstellen und meine Tochter konnte ungestört ankommen.
    Der Alltag mit Kind ändert das bisherige Leben und gibt eben eine neue Art von Struktur vor.
    Und eine unstrukturierte Struktur ist doch irgendwie entschleunigend 🙂

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert