Mein Sohn wird in einigen Monaten 2 Jahre alt und ich stille ihn noch. Ich stille ihn nicht nur abends zum Einschlafen oder morgens nach dem Aufstehen. Ich stille ihn noch immer nach Bedarf. Dieser Bedarf kann täglich anders sein: An manchen Tagen habe ich das Gefühl, dass er mehr stillt als andere Nahrung zu sich nimmt. Das sind besondere Tage. Tage, an denen ich um so mehr spüre, wie wichtig das Stillen für ihn ist und dass er es gerade an diesem Tag benötigt.
Wer sein Kind so lange stillt, wird in unserer Kultur zwangsläufig früher oder später einen komischen Seitenblick bekommen. Wenn nicht in der eigenen Familie, dann vielleicht im Freundeskreis oder auf der Straße. Ich stille bereits mein zweites Kind so lange und kenne die Blicke und Kommentare der anderen. Durch mein erstes Kind und meine dabei gewachsene starke Befürwortung des langen Stillens haben sich die Menschen in meiner Familie an das Stillen gewöhnt und auch meine Freunde wissen, dass dieses Stillen zu mir gehört und zu der Art, wie ich Mutterschaft lebe. Was noch in der ersten Stillzeit ein langer Kampf war mit immer wieder kehrenden Diskussionen über das Verwöhnen, über den angeblichen Nährstoffbedarf des Kleinkindes und mögliche psychische Folgen, hat sich abgeflacht. Es wird vielleicht noch belächelt oder es kommt auch mal ein flapsiger Kommentar. Aber sie wissen es und kennen mich.
Überrascht hat mich dann doch eines Tages die Frage nach der Stilldauer von einer Person, von der ich es nicht erwartet hätte: „Mama, wie lange willst Du meinen Bruder noch stillen?“ Ob ich ihn länger stillen würde als ich sie gestillt habe? Meine Tochter habe ich im Alter von 2 Jahren abgestillt. Sie hatte nicht mehr viel gestillt zu diesem Zeitpunkt und für mich war der Punkt gekommen, an dem ich nicht mehr stillen wollte. Ich hatte mit ihr gesprochen damals, hatte es ihr erklärt und ganz langsam unsere Stillbeziehung gelöst. Es tat sich eine neue Zeit auf, eine andere Art der Beziehung hat sich damals ergeben. Die Zeit nach dem Stillen. Eine Zeit, in der man auf andere Art beruhigt, als das Kind an der Brust zur Ruhe kommen zu lassen. Eine Zeit, in der das Kind anders einschläft als an der Brust. Eine neue Zeit mit neuen Räumen für Gemeinsamkeit aber auch der Loslösung einer engen Verbindung. Wir sind diesen Weg gut und richtig zusammen gegangen und haben für uns neue Rituale und neue Gemeinsamkeiten gefunden. Denn das bedeutet das Abstillen auch: Zusammen neues erfahren.
Nun rückt der zweite Geburtstag des Sohns heran. Die Tochter beäugt kritisch die Stilldauer. Vielleicht ein natürlicher Instinkt eines Kindes, das fürchtet, dass in das Geschwisterkind mehr investiert werden könnte, es mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommt – wenn man es evolutionsbiologisch betrachten möchte. Vielleicht ist es auch die Frage eines Mädchens, das auch später einmal Kinder haben wird – wenn ich es sozial betrachte. Welche Gründe auch hinter ihrer Frage stehen, kann ich ihr nur erklären, dass die Stilldauer bei jedem Kind anders ist und ich ihren Bruder wahrscheinlich auch noch nach dem zweiten Geburtstag stillen werde.
Jedes Kind ist anders. Jedes Kind hat seine Persönlichkeit, seinen eigenen Entwicklungsverlauf, sein Temperament, sein Beruhigungsstrategien. Und so kann auch die Stilldauer bei jedem Kind ganz anders aussehen. Einige Kinder stillen sich früh ab oder werden abgestillt, weil Mütter nicht stillen können oder wollen. Andere Kinder werden über das erste Jahr hinaus gestillt, manche auch über das zweite oder noch länger. Die Entscheidungen, die dahinter stehen, können so vielfältig sein. Von Außen ist es kaum möglich, die persönlichen Gründe für eine Stillbeziehung zu erfahren. Vielleicht ist es die ruhige Zeit für Mutter und Kind im hektischen Alltag zwischen Job und Familie, die das Stillen mit sich bringt. Oder es ist die gute Beruhigung für ein Kind, das sonst Schwierigkeiten hat, sich selbst zu regulieren? Oder es ist das Nachholen von Nähe, die am Anfang des Lebens nicht möglich war? Wir kennen die Gründe nicht für das Stillen der anderen nicht.
Und so, wie wir sie nicht erfahren werden und nicht uns nicht vollständig in sie hinein versetzen können, um zu verstehen, sollten wir es auch einfach lassen. Es gibt Frauen, die ihre Kinder stillen und es gibt Kinder, die gestillt werden. Manche kürzer, manche länger. Aus welchen Gründen auch immer. Natürlich gibt es auch rein logische Gründe in Zusammenhang mit den Inhaltsstoffen der Muttermilch. Doch bei lange Stillenden stehen diese meist nicht im Vordergrund. Es sind Gründe, die mit der Familie zu tun haben, mit dem Wesen der Beteiligten. Es sind nicht unsere Gründe und es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu urteilen. So, wie ich nicht darüber urteile, warum manche Menschen ausschließlich rosa tragen oder sich die Fußnägel täglich neu lackieren. Es ist eine Entscheidung, die man trifft. Für sich und sein Kind. Und so muss es sein.