Kinder in (körperlicher) Selbstbestimmung stärken

Wenn wir uns in Kinderbuchhandlungen umsehen, sind die Regale gefüllt mit Büchern zum Thema Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Sie erklären, dass Kinder „nein“ sagen können und dürfen, dass ihr Körper ihnen selbst gehört. Es ist gut, solche Kinderbücher als Anlass zu nehmen, um mit Kindern über Selbstbestimmung und körperliche Grenzen zu sprechen. Zu denken, dass nur ein oder mehrere solcher Bücher ausreichen, damit das Kind für sich und die eigenen Grenzen einstehen kann, ist allerdings eine Fehlannahme: Kinder lernen die Selbstbestimmung über ihren Körper vor allem über den Alltag und die vielen kleinen Momente, in denen wir ihnen zeigen, dass sie eine Stimme haben, die respektiert wird.

Was sich Eltern eigentlich wünschen

Für unsere Kinder wünschen wir uns, dass sie im Laufe ihres Lebens formulieren können, wenn sie etwas nicht wollen. Dass sie gute und selbstbestimmte Entscheidungen treffen in Bezug auf ihr gesamtes Leben, aber auch ihren Körper. Dass sei sich nicht von anderen gedrängt fühlen, sich nicht drängen lassen oder eine beständigen Unsicherheit in sich tragen, ob sie so, wie sie sind, in Ordnung sind und sein dürfen. Wir wollen, dass sie überzeugt „Nein“, „Lass das“ oder „Ich mag das anders.“ Diese Art der Selbstbestimmung kann ihnen in vielerlei Hinsicht im Leben eine Stütze sein und ist gerade auch in Bezug auf Erwartungen und Rollenbilder bei Mädchen und Frauen in Hinblick auf ihr Körperbild und Verhalten bedeutsam.

Stärkungssätze allein helfen nicht

Doch es reicht nicht, Kindern zu sagen „Du hast eine Stimme!“ oder „Du sollst ‚Nein‘ sagen, wenn Du etwas nicht magst!“. Sie müssen das Wissen darum, dass sie über sich selbst bestimmen können und ihre (körperliche) Integrität gewahrt wird, wirklich verinnerlichen dadurch, wie Eltern und andere Bezugspersonen mit ihnen umgehen und sie auch vor Außenstehenden, die ihre Grenzen überschreiten wollen, in Schutz nehmen.

In Bezug auf die Selbstbestimmung des Kindes benötigen wir auch hier wieder ein anderes Framing: Das »Nein« eines Kindes ist ein Entwicklungsschritt, der nicht mehr aus der Perspektive des Trotzes betrachtet werden sollte, sondern als bedeutender Meilenstein seiner Entwicklung. Das kindliche »Nein« ist ein Baustein auf dem Weg der Selbstbestimmung. Mit einem Nein grenzen wir uns ab, grenzen Gefühle, Wahrnehmungen und Wünsche ab. Erst durch das Nein haben wir auch einen freien Zugang dazu, Ja zu sagen, und auch dieses ist in Bezug auf die Selbstbestimmung wichtig: Wir müssen wissen, was wir wirklich wollen, was gut für uns ist. Dieses Ja zu uns selbst wird im Laufe der Zeit und gerade in Bezug auf die sexuelle Entwicklung im Jugendalter besonders wichtig. »Ja,
das mag ich!«, »Ja, das möchte ich (mit dir) ausprobieren« oder eben »Nein, das gefällt mir nicht«. Wenn wir schon als Kinder erfahren haben, dass wir die Kompetenz besitzen, unsere Bedürfnisse wahrzunehmen, auszudrücken und sie benennen zu können, können wir diese Sicherheit mitnehmen in unsere späteren Beziehungen.

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Ein Bewusstsein schaffen für die eigene Wahrnehmung

Das, was wir unseren Kindern daher wirklich vermitteln müssen, sind nicht bestimmte Worte oder Sätze in bestimmten Situationen, sondern das Gefühl, dass ihre eigene Wahrnehmung richtig ist und sie darauf vertrauen dürfen. Sie dürfen erfahren, dass wir ihre Empfindungen nicht abwerten oder ihnen erklären, dass ihre Empfindungen nicht richtig sind. Genau dieses findet aber an vielen Stellen im Alltag statt, wenn wir ihnen erklären, dass es aber doch warm oder kalt ist und sie deswegen etwas anderes anziehen sollen, als sie wollen. Wenn wir ihnen sagen, dass das schon nicht so schlimm sei, dieses oder jenes zu machen, obwohl sie gerade gesagt haben, dass ihnen das unangenehm ist oder sie ängstigt.

Das bedeutet nicht, dass wir solche Situationen immer einfach „nur“ hinnehmen. Wir können, wenn sie beispielsweise ein Kleidungsstück anziehen wollen, das unserer Meinung nach nicht zum Wetter passt, sagen, dass sich das für sie so anfühlt und wir noch eine Jacke/T-Shirt mitnehmen, falls sie ihre Meinung ändern. Wir können annehmen, dass sie sich gerade ängstigen in einer Situation und nicht einfordern, dass sie sich zusammenreißen, sondern fragen, was sie brauchen, damit es ihnen besser geht.

Auch vor Außenstehenden für sie eintreten

Gerade anderen Personen gegenüber erscheint es vielen Eltern schwer, sich für die Selbstbestimmung des Kindes einzusetzen: Das Kind will dem anderen Familienmitglied keinen Kuss oder keine Umarmung schenken. Das Kind will nicht bei der anderen Familie übernachten. Das Kind lacht nicht über den Scherz eines Familienmitglieds. In diesen Momenten ist es ebenso wichtig, dass die Wahrnehmung des Kindes gestärkt wird: „Du möchtest nicht…“, „Du findest…“ und dann der anderen Person zu erklären, dass das Kind ein Recht auf Selbstbestimmung hat und dieses hier überwiegt vor dem Wunsch einer anderen Person.

Besonders bedeutsam ist schließlich zum Schutz des Kindes, dass andere Menschen lernen, die Grenzen nicht zu übertreten, gerade nicht von Schwächeren. Unsere Kinder (und wir Eltern) können nicht die gesamte Verantwortung dafür, dass Kinder für ihre Grenzen eintreten, allein übernehmen. Vor allem kommt es darauf an, dass Menschen in einer machtvolleren Position die Grenzen anderer nicht überschreiten.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und tragen seit über 10 Jahren maßgeblich zur Verbreitung bedürfnisorientierter Erziehung bei. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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