Unvermittelt setzt sich das kleine Kind auf einmal auf die Straße. „Den Schnürsenkel selber zumachen!“ sagt es und beginnt damit, die beiden Enden des geöffneten Schnürsenkels miteinander zu verdrehen. Wie schön, dass es das selber machen möchte – aber gerade jetzt? Gerade hier auf der Straße? Und eigentlich weiß ich doch, dass das sowieso nichts wird…
Dass unsere Kinder Dinge tun wollen, die sie noch nicht können, sehen wir jeden Tag: Die Treppe hochsteigen, die letzte Treppenstufe herunter hüpfen, den Knopf zu machen, das Hemd richtig herum anziehen, den Schnürsenkel binden… Die Welt ist voller Dinge, die Kinder noch nicht können auf der Entwicklungsstufe, auf der sie sich gerade befinden. Und manchmal ist es nicht einfach, wenn sie gerade jetzt Dinge noch nicht können. Nicht einfach, weil sie frustriert sind von dem Unvermögen und wir diese Frustration halten müssen: Unsere Kinder müssen wir nicht vor Frustration bewahren, aber mit ihnen zusammen einen Weg hindurch finden. Wir begleiten sie, mit dem Gefühl umzugehen.
Du kannst das nicht!
Eine recht schnelle Reaktion darauf, wenn ein Kind etwas tun möchte, von dem wir denken, es könne es noch nicht, ist: „Lass das, Du kannst es nicht.“ Wir unterbinden eine Handlung, weil wir denken, das Kind ist dazu noch nicht im Stande. Diese Reaktion kann dazu führen, dass das Kind wirklich aufhört und wir einer möglichen Frustration aus dem Weg gehen. Auf diese Weise kann sich das Kind nicht erproben, die Fähigkeit nicht erlernen durch Ausprobieren. Und wir nehmen ihm auch die Chance, überhaupt selbst zu merken, dass es (noch) nicht fähig ist und ermöglichen daher auch nicht dem Umgang mit der Frustration und dem Lernen aus dieser Situation. Denn auch der immer wieder kehrende Umgang mit Frustration und das Ausbilden von passenden Handlungsstrategien und Beruhigungsmethoden oder Alternativen ist wichtig und Teil der Entwicklung. Unterbinden wir das Ausprobieren, unterbinden wir auch dies.
Möglich in dieser Situation ist jedoch auch, dass das Kind gerade wegen der Einschränkung wütend ist und dies je nach Temperament unterschiedlich äußert. Es ist frustriert: Nicht, weil es selbst gemerkt hat, dass es etwas noch nicht kann, sondern weil wir es an dieser Erfahrung gehindert haben. in diesem Fall wird es nicht nur der Erfahrung beraubt, sondern gerät zu der Verärgerung in eine Auseinandersetzung mit dem Elternteil, wenn der in dieser Situation normalen Verärgerung kein Verständnis entgegen gebracht wird.
Probier es aus!
Sicherlich ist es nicht immer und in allen Situationen möglich, aber als Eltern sollten wir eine positive Grundeinstellung dem gegenüber mitbringen, dass unser Kind seinem Bedürfnis nachkommen kann und wir es immer dann ermöglichen, wenn es eben möglich ist. Gerade mit Geschwisterkindern oder bei wichtigen Terminen sind wir nicht unabhängig und frei in der Entscheidung, aber oft ist es im Alltag doch auch möglich, das Kind Erfahrungen machen zu lassen.
Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, halten wir unsere Kinder oft auch aus Bequemlichkeit von Dingen ab: weil wir eigentlich gerade keine Lust haben auf Umständlichkeit, weil wir eigentlich schnell nach Hause wollen (ohne Termindruck), weil es gerade nervig wäre, wenn die Kinderkleidung (schon wieder) gewechselt werden müsste. Natürlich sind auch unsere erwachsenen Wünsche wichtig und haben nach einem anstrengenden Tag ihre Berechtigung – aber eben nicht immer. Auch hier sollten wir – wie bei so vielen Dingen – auf das Gleichgewicht achten, auf die Gleichwertigkeit der Wünsche. Wir sollten immer wieder auch denken: Warum auch nicht? Warum jetzt nicht? Heute habe ich Zeit, heute ist ein guter Tag für Abenteuer. Und dann ermöglichen wir unserem Kind dieses kleine Abenteuer der Erkundung.
Du kannst es doch!
Und vielleicht werden wir durch dieses kleine Abenteuer überrascht und unser Kind zeigt uns etwas, von dem wir nicht gedacht hätten, dass es das schon kann. Vielleicht öffnet diese kleine Situation unsere Augen und zeigt uns, dass unser Kind schon größer ist als gedacht. Dass es eine neue Fähigkeit erworben hat. Vielleicht stellen wir erstaunt fest: Du kannst es ja schon! Und dann können wir uns gemeinsam mit unserem Kind freuen. Können uns erfreuen an den strahlenden und stolzen Augen.
Du kannst es nicht, aber Du hast es probiert!
Vielleicht klappt es eben auch nicht. Und dann braucht unser Kind kein „Hab ich ja gleich gesagt!“, sondern Verständnis und Beistand. „Es klappt noch nicht so gut, kann ich Dir helfen/kann ich es Dir zeigen?“ wäre eine Möglichkeit, um dem Kind zu zeigen, wie es gehen könnte, wenn es Hilfe annehmen möchte. „Das ist noch ziemlich schwer!“ umschreibt die Anstrengung des Kindes und spiegelt das Empfinden wider. „Ich verstehe, dass Du wütend bist, weil es nicht so klappt wie Du dachtest.“ fängt die Wut auf, wenn das Kind verärgert ist. All diese Reaktionen des Kindes sind okay und normal. Und es lernt, wenn es eine Aufgabe nicht lösen kann, mit dem Gefühl umzugehen – durch unsere Hilfe. Ein „Diesmal hat es nicht geklappt, aber Du kannst es wieder probieren.“ gibt dem Kind die Möglichkeit, an einen neuen Versuch zu glauben.
Das Schnürsenkelbinden hat auch bei uns nicht funktioniert. Der Schuh wurde ärgerlich vom Fuß gerissen. „Jetzt bist Du wütend, weil es nicht geklappt hat.“ habe ich meinem Kind gesagt, während es wütend den unbeschuhten Fuß auf den Boden stampfte. Und dann kam das große Geschwisterkind und sagte: „Komm, ich zeig es Dir.“ Und ich dachte daran, wie wir vor vielen Jahren eine ähnliche Situation zusammen hatten. Damals konnte es selbst noch nicht eine Schleife binden. Und heute zeigt sie es dem kleinen Bruder ganz selbstverständlich. Weil sie nicht aufgegeben hat und es immer wieder probiert hat.
Eure
Oh welch schöne Situation zwischen den beiden Geschwistern! <3
Die Kinder überraschen einen oft, mit Fähigkeiten, die man nicht erwartet hat, aber geduldig hat ausprobieren lassen und dann platzt man schier vor Stolz.