An vielen Stellen ist bindungsorientierte Elternschaft schon bekannt. An anderen Stellen wir bindungsorientiert gelebt, ohne dass es dafür einen Namen gibt. Einfach aus dem Gefühl heraus, aus dem, was sich gut anfühlt für eine Familie. Dies ist wahrscheinlich der leichteste und entspannteste Weg für Familien: Auf das Bauchgefühl vertrauen können, weil es sich gut und richtig anfühlt und tatsächlich auch das ist, was heute unter moderner und unterstützender Begleitung von Kindern angesehen wird. Eltern, die selbst sicher aufgewachsen sind, haben oft ein Bauchgefühl, das ihnen das richtige Handeln natürlich ermöglicht. Andere brauchen manchmal Hilfe, um auf diesen Weg zu kommen, wenn “der Bauch” ganz anderes rät, weil es anders erlernt wurde.
Vorurteil 1: Ich verwöhne mein Kind so zu sehr
An anderen Stellen ist bindungsorientierte Elternschaft noch nicht verbreitet, nicht bekannt. Oder: Es gibt Vorurteile, die Eltern davon abhalten, sich auf diesen Weg zu begeben. Das größte Vorurteil, welches Familien davon abhält, sich an geäußerten Bedürfnissen zu orientieren statt an alten, starren Regeln, ist die Sorge, das Kind durch das Eingehen auf Bedürfnisse zu sehr zu verwöhnen. Ich habe an einigen Stellen schon darüber geschrieben, warum Kinder, insbesondere Babys, nicht durch bindungsorientiertes Verhalten verwöhnt im Sinne von „verzogen“ werden können. In meinem Buch „Geborgene Kindheit“ ist dazu zu lesen:
Bindungsorientiertes Verhalten ist kein Verwöhnen – das müssen wir uns und anderen immer wieder sagen. Wenn wir unsere Kinder liebevoll begleiten und ihre Bedürfnisse respektieren und berücksichtigen, ist das zu keiner Zeit negativ.
Vorurteil 2: Das ist zu anstrengend mit zu vielen Regeln
Der andere Grund, der Eltern davon abhält, sich dem bindungsorientierten Leben zuzuwenden, ist der Gedanke: Das ist mir zu viel! Das ist doch das mit langem Stillen und Familienbett und Tragen statt Kinderwagen und Stoffwindeln und so. Auch dies ist ein Irrtum, denn zwar gehören diese Aspekte zu vielen Familien, die bindungsorientiert leben, aber nicht zu allen. Und vor allem bedienen sich viele Familien aus einer reichen Palette an Möglichkeiten, um die jeweils für sie passenden Ideen und Konzepte zu finden. Bindungsorientierte Elternschaft ist eher wie ein Baukasten, aus dem sich Familien bedienen können, um ihr ganz persönliches Konzept zusammenzustellen.
Die Basis von der Idee besteht nicht in Handlungen oder in Regeln, sondern in dem Beantworten von Bedürfnissen: Als Menschen haben wir alle bestimmte Bedürfnisse, die wir mehr oder weniger direkt äußern. Das Bedürfnis nach Schlaf, nach Nahrung, nach Luft zum Atmen, nach Sicherheit, nach sozialen Kontakten,… Diese Bedürfnisse sind bei uns allen gleichermaßen vertreten. Einige werden kulturell und sozial beeinflusst, andere – die Grundbedürfnisse – sind bei allen gleich. Schon Babys und Kleinkinder äußern ihre Bedürfnisse. Befriedigen wir diese, geben wir ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Sie können auf uns vertrauen, können sich geborgen fühlen und aus diesem Gefühl der Sicherheit, des warmen Nests, die Welt erkunden. Das ist es auch, was mit „Wurzeln und Flügeln“ umschrieben wird: Wir geben ihnen durch die Beantwortung von Bedürfnissen sichere, feste Wurzeln, bauen ein sicheres, festes Fundament. So kann das Kind sie Welt erkunden und immer wieder zurück kehren in das behütende Nest, wenn es das Bedürfnis danach hat.
Es gibt immer verschiedene Wege, um Bedürfnisse zu befriedigen Bedürfnisse können dabei auf verschiedene Arten befriedigt werden: Das Bedürfnis nach Nahrung kann befriedigt werden durch das Stillen oder Nahrung aus der Flasche. In Bezug auf die Bedürfnisbefriedigung ist beides, sofern es prompt (ja nach Alter) und auf die Bedürfnisse des Kindes zugeschnitten erfolgt, richtig und gleichermaßen für Sicherheit sorgend. Muttermilch ist die normale Ernährung des Babys und die darin enthaltenen Stoffe sind in anderer Nahrung nicht alle zu finden oder überhaupt reproduzierbar, sie ist deshalb in Hinblick auf die Gesundheit in besonderer Weise wertvoll. In Hinblick auf die Bindung aber ist das Stillen nicht ausschlaggebend dafür, dass Eltern und Kinder eine sichere Bindung entwickeln. Auch nicht gestillte Kinder können ein sicheres Bindungsmuster entwickeln. So verhält es sich in vielen Bereichen: Das Familienbett hat viele Vorteile für Eltern, aber auch Kinder, die im Beistellbett oder in einem anderen Bett im Elternzimmer schlafen, können eine sichere Bindung entwickeln, wenn ihr Bedürfnis nach Sicherheit in der Nacht und Zuwendung befriedigt wird. Stoffwindeln oder Abhalten sind kein Muss, haben aber in Hinblick auf die Kommunikation und Körperwahrnehmung Vorteile.
Bedürfnisse sollten ausgewogen behandelt werden
Die große Kunst aller Eltern – nicht nur in Bezug auf bindungsorientierte Elternschaft – ist es, Bedürfnisse von Erwachsenen und Kindern zu vereinbaren. In der bindungsorientierten Elternschaft sind beide Seiten einer Waage (Eltern und Kind) gleichermaßen bedeutend und es wird beständig nach Kompromissen und Wegen gesucht, die für beide zielführend sind. Das Familienbett kann ein solches Beispiel sein, wenn Eltern sich wünschen, nachts nicht aufstehen zu müssen, um ein weinendes Kind zu beruhigen und das Baby nachts die sichere Nähe der Eltern braucht. Elternbedürfnisse sind ebenso wichtig wie Kinderbedürfnisse. Das ist es auch, wenn wir davon sprechen, dass Eltern und Kinder sich auf Augenhöhe begegnen: Es bedeutet: “Ich sehe Dein Bedürfnis und möchte es beantworten, ich ordne Dein Bedürfnis nicht meinem unter.” Die meisten anderen Erziehungsstile haben ein größeres Gewicht auf den Bedürfnissen der Elternseite und Kinderbedürfnisse werden den Elternbedürfnissen hinten angestellt und müssen sich unterordnen. Das kann dazu führen, dass Kinder sich nicht so sicher fühlen, weil ihre Bedürfnisse weniger wert sind und häufiger zurück stecken müssen. Ist das Gewicht auf Seiten der Kinderbedürfnisse schwerer und Eltern stecken langfristig immer wieder zurück, ist dies ebenfalls ungünstig, da es Eltern in die Erschöpfung führt und dies nicht selten dann mit negativem Erziehungsverhalten einher geht aufgrund der beständigen Überlastung.
Die einzige wirkliche Regel
Die einzige wirkliche Regel, die es daher gibt, ist Kinder feinfühlig und respektvoll zu behandeln. Und in diesem Rahmen haben wir wirklich viele Möglichkeiten, um das zu ermöglichen. Wichtig ist immer wieder, eigenes Handeln zu reflektieren, sich in das Fühlen des Kindes hinein zu versetzen. Manchmal merken wir dann, dass wir auf einem ungünstigen Weg sind und können einen neuen einschlagen. Oft sehen wir wahrscheinlich auch, dass wir es ganz gut machen und nach den Möglichkeiten, die uns eben zur Verfügung stehen. Und dann können wir stolz sein auf unseren Weg, auch wenn andere es vielleicht anders machen. aber diese leben ein anderes Leben mit anderen Rahmenbedingungen, anderen Temperamenten. Jede Familie kann ihren eigenen Weg finden, um gemeinsam zu wachsen. Dabei sollten wir lediglich immer respektvoll miteinander umgehen.
Jeder Artikel ist eine Einladung
Wann immer es Artikel gibt über bindungsorientierte Elternschaft: ob über Stoffwindeln, über das Tragen, über den Alltag, dann sind sie eine Einladung: Eine Einladung, sich dieses Thema einmal anzusehen und das daraus mitzunehmen, was für einen selbst passt. Manches Mal mag man denken: “Mach ich auch so. Das ist schön.” Manches Mal mag man denken: “Da ist vielleicht etwas Wahres dran. Ich schau mal, ob das passen könnte.” Manches Mal denkt man auch: “Autsch, das stimmt ja, darüber hab ich noch nie nachgedacht. Vielleicht schau ich mir das mal genauer an.” Und manchmal denkt man auch: “Nein, das passt nicht zu uns, das mache ich nicht.” Jeder dieser Wege hat seine Berechtigung. Jeder von uns entscheidet über den ganz persönlichen Weg der eigenen Familie. Wir können und Anregungen holen, können uns austauschen. Wir haben heute die Chance, andere Wege zu gehen, weil wir von ihnen erfahren. Es ist eine Bereicherung, das Angebot, etwas mitzunehmen. Das Angebot, in sich selbst hinein zu hören. Nur das Angebot.
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