In der letzten Zeit wird auf verschiedenen Kanälen immer wieder nach Definitionen von modernen Erziehungskonzepten gesucht. „Attachment Parenting“, „Unerzogen“, „Bindungsorientierte Elternschaft“, „Bedürfnisorientierte Elternschaft“ – Eltern haben es schwer, sich in dem Durcheinander der Begrifflichkeit zurecht zu finden. Manchmal sind sie auch überfordert von dem, was anscheinend eine gute Beziehung ausmachen soll. Auf der anderen Seite ist oft die Frage zu lesen: „Brauchen wir überhaupt einen Begriff?“ wenn es darum geht, dass Elternschaft leben heute eben nicht mehr starr ausgerichtet, sondern als sich wandelnder Prozess betrachtet wird, der die Beziehung von Eltern und Kind in den Vordergrund rückt und nicht das Abhandeln von strikten Regeln oder Empfehlungen. Was gehört dazu, um eine sichere Bindung auszubilden und was ist ganz persönlicher Gestaltungsspielraum?
Begriffe erleichtern das Ausrichten und Finden
Aus der Arbeit mit Eltern weiß ich, wie wichtig es für viele Eltern gerade am Anfang des Weges ist, Begrifflichkeit zu finden, mit denen man sich identifizieren und an denen man sich ausrichten kann. Das bedeutet nicht, dass sich Eltern streng an bestimmten Vorgaben abarbeiten, aber dass sie einen Leitstern haben, der einen Weg vorgeben kann. Es ist zu vergleichen mit der Onlinesuche: Wenn ich einen Begriff habe, den ich für die Suche verwenden kann, fällt es mir leichter, passende Ergebnisse zu finden. Erziehungsbegriffe sind wie Schlagworte, die es Eltern ermöglichen, sich erst einmal auszurichten und von da an einen eigenen Weg zu gehen. Es mag sein, dass viele Eltern von sich aus einen Weg gehen ohne jemals eine Bezeichnung dafür gebraucht zu haben – das ist ganz wunderbar. Auf der anderen Seite gibt es viele, die sich von alten Erziehungsmustern lösen und Neuland betreten. Dafür brauchen sie oft Begleitung, Unterstützung und Hilfen – und einen Namen, der diesen Weg begleitet.
Hilfsmittel können helfen, Bedürfnisse wahrzunehmen
Sichere Bindung entsteht da, wo wir die Bedürfnisse eines Menschen wahrnehmen und je nach Alter prompt oder weniger prompt beantworten. Feinfühligkeit, Empathie, Mitgefühl, Zugewandtheit, Geborgenheit – dies sind Begriffe, mit denen wir die Grundvoraussetzungen für das Entstehen der sicheren Bindung gut umschreiben können. Die Bedingungen können wir auf verschiedene Weise schaffen durch unterschiedliche Hilfsmittel, die wir einsetzen. Es gibt Hilfsmittel, die es uns erleichtern, die Bedürfnisse eines Babys oder Kindes gut wahrzunehmen und darauf angemessen reagieren zu können.
Körperkontakt beispielsweise ist ein solches Mittel: Wenn wir mit einem Baby im Körperkontakt stehen, können wir seine Lautäußerungen gut wahrnehmen – besser als aus der Distanz und auch schon leisere Töne hören. Wir spüren die Temperatur des Kindes und den Bedarf nach mehr Wärme. Wir nehmen Bewegungen wahr und können erspüren, ob das Baby unruhig wird und vielleicht hungrig ist, eine Windel benötigt oder abgehalten werden muss (wenn Eltern windelfrei nutzen). Körperkontakt kann daher ein Hilfsmittel sein, um Bedürfnisse gut wahrnehmen zu können. Im nächsten Schritt können wir diese Bedürfnisse angemessen beantworten. Hierfür ist es notwendig zu wissen, was kindliche Bedürfnisse wirklich sind und wie eine sinnvolle Antwort aussieht. Auch die Antworten auf das Bedürfnis „Hunger“, wenn wir dieses wahrgenommen haben, können unterschiedlich sein: wir können stillen oder die Flasche geben. Beides sind Antworten auf das Bedürfnis, das geäußert wurde, beide sind – wenn sie prompt erfolgen – ganz im Sinne des Kindes und können das Gefühl des Kindes, gut und sicher umsorgt zu werden, unterstützen und damit einer sicheren Bindung den Weg ebnen. Das Kind bewertet nicht „stillen“ oder „Flasche“, sondern ob das Hungerbedürfnis befriedigt wurde oder nicht. – Nur wir Erwachsenen stellen in Hinblick auf Bindung zu oft eine Hierarchie zwischen beiden Antwortformen auf, die nicht richtig ist. Stillen kann Bindung unterstützen, körpernahes Füttern mit der Flasche aber auch. Wir sehen daher: Eine sichere Bindung kann auf ganz verschiedene Wege entstehen durch unterschiedliche Antworten und unterschiedliche Hilfsmittel, die wir nutzen.
Attachment Parenting als Hilfsmittel
Das amerikanische Ehepaar Martha und William Sears haben den Begriff „Attachment Parenting“ geprägt für eine besondere Form, wie sie Elternschaft gelebt haben/leben und empfehlen: Es gibt neben der Theorie um Bindung bestimmte Werkzeuge, die das Herstellen einer sicheren Bindung ermöglichen sollen. „Baby B’s“ werden diese Hilfsmittel genannt und umfassen laut Sears: Birth Bonding, Breastfeeding, Baby wearing, Bedding close to baby, Belief in the language value of your baby’s cry, Beware of Baby Trainers, Balance and Boundaries.
Betrachten wir diese Hilfsmittel konkret, wird klar, dass die meisten Hilfsmittel eben solche sind, die Handlungen aufzeigen und Eltern konkrete Hilfsmittel an die Hand geben. Dies kann sehr hilfreich sind, wenn es Eltern noch schwer fällt, den Weg zu beginnen. Sie sind ein Starter-Kit: Sie können Hilfen sein, um zu einer sicheren Bindung zu gelangen. Aber es gibt darüber hinaus auch andere Wege, um diese herzustellen: Bindung entsteht auch da, wo Babys nicht getragen werden, wo das Bonding nach der Geburt nicht direkt möglich war, wo Eltern vielleicht dieses Kind gar nicht geboren haben, wo nicht gestillt wird, wo nicht gemeinsam in einem Bett geschlafen wird.
„Ist ein Kind im Tragetuch, muss es nicht unbedingt geborgen sein, auch nicht, wenn es mit Eltern und Geschwistern im Familienbett schläft. Und nur weil man sein Kind im Geburtshaus zur Welt bringt, hat man es nicht am geborgensten Ort der Welt geboren. Geborgenheit ist etwas, das wir mit unseren ganz eigenen Zutaten selbst herstellen. Es ist ein Familienrezept, das in jeder Familie ein wenig anders aussehen kann. Jeder bedient sich anderer Zutaten, damit das entsteht, was die Familie glücklich macht.“
- Susanne Mierau (2016): Geborgen wachsen: Wie Kinder glücklich groß werden
Attachment Parenting kann ein Weg sein, um zu diesem Ziel zu kommen, aber es ist kein Muss, alle einzelnen Punkte zu absolvieren. Es ist ein Leitstern, der sicherlich für einige Familien sehr hilfreich sein kann. Aber wir sollten diese Hinweise nicht als Muss ansehen und nicht zu streng auslegen. Die Auswirkungen in Hinblick auf die Mütter sind umstritten: Ist Attachment Parenting feministisch oder nicht? Wir können uns zudem fragen: Ist das Konzept hier, für unsere Gesellschaft stimmig?
„Die Person, an die sich das Baby bindet, muss nicht zwangsläufig eines der biologischen Elternteile sein. Es ist auch möglich, dass Adoptiveltern, Großeltern, Pflegeeltern oder andere Personen, die dem Baby Schutz und Zuwendung bieten, diese Bindungspersonen werden. Erste Bindung muss nicht weiblich sein. Zwar wird schon in der Schwangerschaft ein Band aufgebaut, doch ist dies zu Beginn des Lebens auf Seiten des Kindes noch sehr variabel.“
Betrachten wir Bindung, ist dies umfassender als „nur“ diese Baby-B’s und die genannten Punkte könnten auch durch andere ausgetauscht oder ergänzt werden, wenn sie Handlungsweisen in den Vordergrund stellen, die das Wahrnehmen und Reagieren auf kindliche Signale und Bedürfnisse bezeichnen. Wir könnten als Baby-B auch das Abhalten von Babys festlegen, wenn es darum geht, die Signale nach Ausscheidung wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Oder „Mimik des Babys lesen“. Oder oder…
Manch andere Bezeichnungen fokussieren deswegen heute mehr auf das Gesamtsystem, auf den Ansatz der Bindung, der dahinter steht und betonen weniger konkrete Methoden, sondern eher eine bestimmte Sicht auf die Beziehung und eine Haltung gegenüber dem Kind. „Bedürfnisorientiert“, „Bindungsorientiert“ sind solche Bezeichnungen. Auch „unerzogen“ umfasst mehr die Haltung und das Verhalten der Eltern, obwohl der Begriff auch oft zu Verunsicherungen führt, wenn Eltern ihn neu hören.
Sichere Bindung kann ohne Gesellschaft nicht gedacht werden
Es sind weniger die konkreten Handlungen, die neue Elternschaft beschreiben, als die Haltung, die Einstellung. Wenn wir uns von konkreten Handlungen abwenden und wissen, dass es viele Handlungen und Möglichkeiten gibt, um bindungsorientiert zu leben, bringt das mehr Freiheit und gleichzeitig aber auch mehr Umsichtigkeit: Eine sichere Bindung herzustellen, bezieht sich zunächst auf das Kind und die Bindungsperson(en). Aber diese Beziehung findet nicht in einem geschlossenen Raum statt. Bindung hat auch mit Gesellschaft zu tun, Kinder haben mit Gesellschaft zu tun und interagieren mit ihr. Eine sichere Bindungsumgebung für das Kind zu schaffen, bedeutet gleichzeitig auch, dass wir ein gesellschaftliches Klima herstellen, in dem diese sichere Bindung gelebt werden kann und weitere sichere Bindungen eingegangen werden können. Ein gesellschaftliches Klima für sichere Bindungen umfasst, dass Menschen informiert werden müssen über die Bedeutung der sicheren Bindung, dass wir uns dafür einsetzen, diese in Tagespflegeeinrichtungen, Krippen, Kitas und Schulen zu verankern. Es bedeutet, dass wir Räume und Rahmenbedingungen schaffen, in denen sicher gebundene Kinder sich gut bewegen können und gleichzeitig auch Eltern eine Unterstützung geben, diesen Weg beschreiten zu können, wenn sie es bislang noch nicht getan haben. Wir ermöglichen Kindern, die nicht unsere eigenen sind und vielleicht zu Hause andere Bindungsmuster erfahren, durch Anlaufstellen und Netze, dass sie eine sichere Bindung zu Personen außerhalb der Ursprungsfamilie herstellen können. Wir entwickeln ein gesellschaftliches Klima, in dem Menschen wertgeschätzt und gut behandelt werden, damit sie den besten Start ins Leben haben. Nicht nur bei unseren eigenen Kindern, sondern für alle, was sich wiederum auch auf unsere Kinder positiv auswirken kann, wenn sie in einer Gesellschaft leben und in eine Welt hinein wachsen, in der liebevolles Miteinander gepflegt wird.
Geborgen wachsen ist Bindungsorientierung
„Geborgen wachsen“ ist kein AP-Blog, wie ich kürzlich in einem Interview sagte. Es ist ein Blog über Bindung und wie wir sie herstellen, erhalten und gesellschaftlich umsetzen können. Mein persönlicher Weg beinhaltet, dass meine Kinder gestillt und getragen wurden und wir ein Familienbett haben solange es die Kinder wünschen. Wir erfüllen die Kriterien des Attachment Parenting im Rahmen des größeren Ganzen. Als ich 2012 dieses Blog startete, hieß es im Untertitel „Tragen, Stillen, Familienbett – Das Blog über (m)einen bindungsorientierten Weg“. Unabhängig von diesem einen Weg, der unser persönlicher Weg ist, gibt es aber viele Möglichkeiten und gleichzeitig auch immer den Blick nicht nur auf uns, sondern auch auf die Umwelt, auf andere Menschen, auf Gerechtigkeit und Gleichbehandlung.
Viele Themen, die heute dem Attachement Parenting zugeschrieben werden wie beispielsweise Stoffwindeln oder Windelfrei oder andere Praktiken, die den Umgang mit Kindern und die Beachtung von Bedürfnissen unterstützen, sind nicht in den Baby-B’s zu finden. Dies hat auch seine Berechtigung, denn diese Baby-B’s sind ein Beginn, von dem aus jede Familie eigene Wege gehen kann. Es gibt deswegen kein direktes „Das gehört auf keinen Fall dazu“. Passend dazu heißt es auch hier bei Sears: „These baby B’s help parents and attachment parenting babies get off to the right start. Use these as starter tips to work out your own parenting style – one that fits the individual needs of your child and your family. Attachment parenting helps you develop your own personal parenting style.“
Es ist meiner Meinung nach gut und der gesamten Bewegung förderlich, dass wir heute den Blick geweitet haben und uns gerade nicht mehr nur auf diese 7 Punkte fokussieren, sondern weiter und globaler denken. Erziehungskonzepte wandeln sich heute ebenso wie seither, werden angepasst und neu ausgerichtet. So ist es auch hier und diese Entwicklung ist wunderbar, denn wir haben gleichzeitig mehr Ideen und konkrete Handlungsempfehlungen aus denen sich Eltern das jeweilig passende schöpfen können und gleichzeitig einen weiteren Blick entwickelt in Hinblick auf die Möglichkeit, dass viele Menschen Kinder gut begleiten können, die Last nicht mehr nur auf den Müttern liegt und wir einen gesamtgesellschaftlichen Wandeln anstreben.
Es ist nur wichtig, die Begriffe nicht zu sehr durcheinander zu mengen, um die Eltern, die auf dem Weg sind, nicht zu verwirren und vielleicht von den guten Punkten, mit denen sie beginnen wollen, abzuhalten. Wer sich auf einen Weg begibt, darf mit den Schritten beginnen, die erst einmal leicht fallen. Und für die weiteren Schritte sollte Hilfe da gegeben werden, so sie hilfreich ist und genutzt werden kann. Und wir werden sehen, ob wir langfristig vielleicht einen anderen Namen für diese Art von Einstellung brauchen, der offener und umfassender ist und weniger Eltern ausschließt.
Eure
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Liebe Susanne,
Danke für diesen schönen Beitrag. Wir leben auch erziehungsfrei und liebevoll in einer Mischung aus Attachment Parenting, Montessori und eigenem Stil. Das Schöne ist ja, dass wir uns das Beste aus allem heraussuchen können!
Ich lese gern bei dir!
Viele Grüße
Laura
http://www.meine-kleine.de