Tag: 29. November 2016

Loslassen – das erste Kind ist Lehrmeister*in

Es geht immer wieder um das Loslassen: Das Loslassen des Babys bei der Geburt, das Gebären. Dem Baby Freiheit geben und Nähe. Das Baby und Kleinkind Erfahrungen sammeln lassen, es nicht vor allem behüten, sondern Lernerfahrungen ermöglichen, damit es sich sein Bild von der Welt machen kann. Das Kind bei anderen Menschen sicher wissen, es irgendwann auf Kindergeburtstagen allein lassen. Übernachtungen bei Freund*innen. Irgendwann wird es einkaufen gehen und allein zur Schule gehen. Das erste Mal ausgehen abends. Die erste lange Reise allein mit Freund*innen. Wir Eltern müssen immer wieder vertrauen, immer wieder loslassen. Denn es ist richtig und gehört dazu. Aber es fällt so schwer – gerade beim ersten Kind.

Die ersten Kinder sind immer besonders, denn alles ist neu und als Elternteil muss man sich erst einmal heranfühlen an das Leben als Elter: an die Nähe und auch die Sicherheit, dem Kind Raum für sich zu geben. Sie sind so klein, so zerbrechlich und wir Eltern wollen sie beschützen und umhegen und natürlich wollen wir nicht, dass es ihnen schlecht geht, dass sie sich verletzen oder negative Erfahrungen machen. Beim zweiten Kind haben wir viel Wissen schon in uns, wir können mit vielen Dingen entspannter sein und auch ein Auge zudrücken, denn wir haben gemerkt: es schadet ja nicht. Oder es liegt außerhalb unseres Möglichkeitsraums. Das zweite Kind bekommt vom größeren Geschwisterkind heimlich ein Stück Schokolade zugeschoben – in einem Alter, als das große Kind nichtmal wusste, dass es das gibt. Das zweite Kind darf viel früher abenteuerlichere Sachen machen, weil wir wissen, dass Kinder das eben können. Und ein wenig wird es so mit jedem weiteren Kind entspannter.

Aber das erste Kind bleibt immer erstes Kind, immer Vorreiter in allem. Denn mit ihm erleben wir Eltern auch weiterhin immer erste Situationen, auch wenn es größer wird. Beim ersten Kind sind wir immer wieder auch Anfängereltern, denn nie zuvor hatten wir ein Schulkind, nie zuvor die Pubertät eines eigenen Kindes erlebt. Das erste Kind fordert uns immer wieder neu zum Loslassen heraus und ebnet den Weg dafür, dass wir später wissen, wie es richtig geht.

Auch für mich ist mein erstgeborenes Kind noch immer eine große Lehrmeisterin des Loslassens. Heute geht es nicht mehr um die Babythemen. Ich habe gelernt, all diese Dinge gut zu meistern. Doch im Alltag mit meinem großen Kind stellen sich mir neue Herausforderungen und Ängste und Sorgen, über die ich nun erstmals neu springen muss, um den Weg mit den anderen Kindern gelassener zu gehen.

Als mein Kind in dieser Woche auf einmal nicht wie immer am Abholtreffpunkt nach der Schule war und auch nicht in der Schule oder der Nähe davon, war das für mich eine große Herausforderung. Es war einfach nach Hause gegangen, weil es mich überraschen wollte und wir haben uns wohl irgendwie verpasst. Im zweiten Moment – nach dem Erschrecken, nach einer Träne der Erleichterung – blickte ich mein Kind an und sah, dass es nun wirklich schon ganz schön groß ist. Und dass es wohl längere Wege schon allein zurück legen kann, weil es sich das zutraut. Und ich muss lernen, dass es sich das zutraut und dieses Gefühl richtig ist. Flügel geben bedeutet manchmal, über den eigenen Schatten zu springen.

Eure

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