Herausforderungen kommen von innen

Ich gehe eine kleine Seitenstraße entlang und höre ein Kind rufen „Ich trau mich nicht!“ Es klingt ein wenig verzweifelt von der anderen Straßenseite her, ein kleines Mädchen. Ich überlege schon fast zu ihm zu gehen, als ich die Mutter auf meiner Straßenseite entdecke. „Du musst aber wirklich lernen, allein über die Straße zu gehen. Jetzt komm herüber und schau Dich vorher um.“ Ich gehe weiter und höre die Stimmen von Mutter und Tochter noch eine Weile hinter mir. Die Tochter, die sich nicht traut, die Mutter, die es aber gerade jetzt beibringen möchte. Ich denke nach über unsere elterlichen Wünsche und Erwartungen an unsere Kinder und über kindliche Fähigkeiten, Mut,  Vertrauen und Können. Herausforderungen kommen immer von innen, denke ich.

Ja, es gibt viele Dinge, die uns Eltern das Leben erleichtern würden. Viele Sachen, von denen wir denken, dass unsere Kinder sie doch schon können sollten, aber sie nicht tun. Sachen, die im Alltag so praktisch wären. Wenn sie keine Angst davor hätten, nachts allein im Dunkeln auf die Toilette zu gehen. Wenn sie sich trauen würden, auch ohne Hand die Mauer entlang zu balancieren. Oder eben, wenn sie allein über die Straße gehen würden.

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Doch jedes Kind hat sein eigenes Tempo, jedes Kind hat seine eigenen Ängste, seine eigenen inneren Hindernisse. Jedes Kind ist anders. Und vor allem sind Kinder eben gerade keine kleinen Erwachsenen. „Stell Dich doch nicht so an“, mögen wir manchmal aus unserer erwachsenen Perspektive denken, denn aus unserer Sicht ist es doch so einfach. Oder wir denken, dass sie vielleicht ein wenig mutiger sein, ein wenig forscher in das Leben treten sollten. Abhärten wurde es früher genannt: Das Kind vor Herausforderungen stellen, damit es im Alltag besser funktioniert, nicht zu weich ist.

Aber Kinder stellen sich selber vor Herausforderungen, wenn sie so weit sind. Es ist ihr eigener innerer Antrieb, sich zu entwickeln. Sie haben ein eigenes Gespür dafür, wann sie soweit sind, um Neues anzugehen. – Und wenn wir ihnen den Raum geben, dass sie sich Herausforderungen suchen können nach ihren Bedürfnissen. Wenn wir ihnen das ermöglichen, wenn wir offen sind für ihre Bedürfnisse und Entwicklung, müssen wir sie nicht voran treiben und keine künstlichen Situationen schaffen, in denen wir ihnen Mut beibringen wollen. Kinder sind von sich aus mutig, wenn wir sie lassen.

Eure
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8 Kommentare

  1. Sehr schöner Text!
    Ich hörte am Wochenende ein Vater zu einem Kind (etwa 2,5 Jahre oder 3)sagen : „Ich bringe Dich nicht ins Krankenhaus, wenn Du da runterfällst“ – der Junge wollte an einer Wackelbrücke auf dem Spielplatz auf den Seil am Rand klettern…
    So kann man auch Mut kaputt machen.. (abgesehen davon, dass der Satz eh total furchtbar ist).
    LG, Julia

  2. So schön geschrieben, danke! ❤️

    Es gibt so viele Situationen im Leben eines Kindes, in denen von anderen erwartet wird, dass sie es schon können müssen. Alleine im eigenen Bett einschlafen, sich alleine wieder beruhigen, alleine im Kindergarten bleiben, …

    Kinder müssen nichts lernen, wozu sie noch nicht bereit sind. Kinder machen ihre ganz eigenen Entwicklungsschritte, in ihrem eigenen Tempo, wenn sie reif dafür sind, sich sicher fühlen. Unsere Aufgabe ist es, sie liebevoll zu begleiten, ihre Bedürfnisse zu erkennen, sie zu begleiten, wenn sie es brauchen und sie loszulassen, wenn sie das Vertrauen und Können haben.

  3. Steffi

    Liebe Susanne, deine Beiträge sind immer so schön und ich freue mich immer sie zu lesen. D sprichst mir aus der Seele. Aber ich habe ein Frage. Meine Söhne 5 und 6 haben momentan eine Phase, in der sie nur miteinander kämpfen wollen. Überall. Meistens ist es spaß, wird aber auch schnell ernst. ich bin ziemlich genervt davon, weil sie nix anderes mehr spielen. Vieleicht kannst du oder jemand anderes mir einen Tip geben, wie ich damit am besten umgehen?!

  4. Ich wurde in so einer ähnlichen Situation mal angesprochen und habe – obwohl ich es nicht leiden kann, mich vor wildfremden Menschen zu rechtfertigen – erklärt, wie es dazu kam: das Kind WOLLTE unbedingt etwas lernen, das es sich noch nicht traute und bekam einen Wutanfall nach dem anderen, wenn ich helfen wollte. Also schickte es mich weg, aber in Hörweite, und ich musste immer weiter irgendwas reden, um ihr Mut zu machen.
    Liebe Grüße!
    Eva

  5. So wahr und so richtig geschrieben!
    Gut, es sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen…
    Einflüsse und Einmischungen von außen gilt es da nicht nah an sich heran zu lassen und sich selbst und den Kindern zu vertrauen.
    Ich habe Ähnliches über Kinder und das, was sie instinktiv besonders gut beherrschen, bzw. was wir über sie lernen können, gerade heute auch verbloggt.
    Stilles Beobachten meiner Minis ist immer wieder sehr inspirierend für mich 🙂

    Herzliche Grüße
    Julia

  6. Kristina

    Da hast Du wohl das richtige Gespür, das ist schön.
    Meinem Kind habe ich fürs Laufen nie Hilfe angeboten, siehe da nach genau 1 1/2 Jahren stand sie auf und lief. Sicher.
    Vorher war alles Muskeltraining. Und wenn es nicht allein geht, dann ist das Kind noch nicht so weit.
    Übrigens ist Krabbeln gut fürs Gehirn, freu Dich:) und mach mit!

  7. Sehr schön geschrieben. Vor diesen Herausforderungen stehe ich auch des Öfteren, was ich diese Woche auch verbloggt habe. Vor allem mit einer schüchternen Tochter.

    Viele Grüße
    Judith von malimuc

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