Schlagwort: Zeitgefühl

Zeit für die kleinen Dinge

Schnecken

Wann hast Du zuletzt einen Regenwurm betrachtet, der sich seinen Weg in die Erde bahnt? Oder eine Schneckenfamilie, die langsam über den Bordstein kriecht? Wann hast Du einer im Wind tanzenden Einkaufstüte nachgeblickt?

Familie zu sein ist anstrengend, das ist keine Frage. Es gibt die durchwachten Nächte, die Entwicklungsschübe, die Streiterein mit den größeren Kindern. Es ist nicht alles rosarot immer. Und es gibt die schönen Momente: das Halten einer kleinen Hand, der zarte, nasse Kinderkuss, die gemeinsame Ruhe. Und dann gibt es noch die Erkenntnis, durch ein Kind neu sehen zu können.

Als ich noch keine Kinder hatte, verfügte ich – aus meiner heutigen Sicht – über so viel mehr Zeit. Kein Gehetze zum oder vom Kindergarten, keine ganz dringenden Besorgungen, keine schlecht gelaunten Kinder im Gepäck. Zeit für mich ganz allein. Um den Dingen nachzugehen, die für mich da waren. Abends noch spät und in Ruhe einkaufen, sich Zeit lassen, irgendwo essen gehen einfach nach Gefühl und Laune. So viel Zeit. Und doch weiß ich nicht, ob ich als Erwachsene ohne Kinder die Wolken betrachtet habe am Himmel mit ihren immer wieder neuen Figuren. Oder zugesehen habe, wie eine Biene aus einer Blüte den Blütenstaub sammelt.

So oft sagen wir, dass wir mit Kindern keine Zeit mehr haben. Doch wenn wir genau hinsehen, dann haben wir nicht nur genauso viel Zeit, sondern wir nehmen uns für manche Dinge mehr Zeit. Die kleinen Dinge. Wir schauen hin und entdecken neu, sehen die Welt neu. Schauen zu, wie das Kind immer und immer wieder auf die Schnecke tippt, damit sie sich in ihr Schneckenhaus zurück zieht. Oder schauen den Ameisen bei ihrer Arbeit auf der Ameisenstraße zu.

Wir haben Zeit. Zeit für die anderen Dinge. Die kleinen. Für die Dinge, die wir vielleicht sonst nie gesehen hätten, die uns nicht aufgefallen wären. Wir sehen sie in einem anderen Blick. Zeit ist Konstrukt, dass sich bei Eltern wandelt, das fast jeden Tag anders ist. Aber wir haben nicht weniger Zeit, wir nutzen sie nur anders. Und wir sollten froh sein darüber, dass wir die Welt einmal wieder mit anderen Augen sehen können und uns Zeit nehmen für die kleinen Dinge, die dem erwachsenen Auge sonst verborgen bleiben. Wir werden noch viel Zeit haben für all die großen und wichtigen Dinge im Leben. Aber für die kleinen, zarten, fast unsichtbaren, da haben wir nur die paar Jahre, in denen auch die Kinder sie noch erblicken und uns darauf hinweisen.