Der Kompass: Irgendwann ist auch mal Schluss! Über das Nein sagen.

Ruth ist Mutter von drei Kindern und eine der bekanntesten Personen, die sich im Netz für das „unerzogene Leben“ mit Kindern einsetzt. Anders als viele denken, bedeutet „unerzogen“ jedoch nicht, dass Kinder sich selbst überlassen werden. „Unerzogen“ ist nicht „laisser faire“, sondern bezieht sich ganz besonders darauf, dass die Beziehung in den Mittelpunkt gerückt und betrachtet wird. Um darüber aufzuklären und mehr Menschen zu informieren, hat mir Ruth diesen Text mit ihrem Blick auf „das Nein“ gesendet:

Wenn ich von meiner Idee berichte, der Erziehung als Konzept ganz Gute Nacht zu sagen und dass ich sie für nicht mehr zeitgemäß halte, dann bekomme ich sehr häufig folgende Antwort:
„Aber was mache ich denn dann, wenn mein Kind xy tut? Irgendwo ist aber auch mal eine Grenze!“ Und darauf mag ich heute antworten. Denn ich kenne diese Gedanken. Dieses quälende ‚das darfst du nicht durchgehen lassen‘, dieses unwohle Gefühl, wenn ich Dinge tat die ich eigentlich gar nicht vertreten konnte. Und das schlechte Gewissen. Und das rechtfertigen. Und dann der Gedanke ‚aber wo bleibe ich denn? Soll ich mich aufopfern?‘

Seit 7 Jahren kenne ich nun die Antipädagogik. Und seit 7 Jahren denke ich darüber nach, wie wir in Beziehung Abgrenzung und Wahrung unserer Integrität leben können. Und ich denke, dass das ‚Nein‘ sagen dabei eine zentrale Rolle spielt. Denn da, im Konflikt, zeigt sich, worum es uns wirklich geht und was unsere Werte sind. Und da dürfen wir auch wachsen.
Eines der Probleme bei einem gewaltfreien und bedürfnisorientierten Umgang mit Kindern ist, dass es oft gar nicht vorstellbar ist, was das konkret bedeutet. Deswegen mag ich möglichst konkret am Beispiel bleiben. Fangen wir an.

Was ist denn nun diese Grenze?

Ich finde das ist die erste, wertvolle Frage, die mir immer weiterhilft. Worum geht es mir denn da genau? ‚Grenze‘ wird als Begriff gerne für alles Mögliche verwendet. Meist heißt sie – ich bin hilflos. Ich bin unsicher. Ich bin wütend. Ich brauche etwas. Und sehr selten ist sie definitiv.
Oder ich möchte jemanden schützen. Oder ich sehe gerade keine andere Lösung. Oder alles zusammen. Du siehst, unter dem Grenzbegriff fällt eine Menge zusammen. Das ist schade, denn so können wir gar nichts mehr voneinander lernen. Die Verbindung ist gekappt. Wir sind im defense-Modus. Schade!

Mir hilft es immer, zu verstehen worum es mir wirklich geht, wenn der Gedanke von der Grenze
auftaucht. Denn von da aus erst kann ich Beziehung gestalten: Wenn ich meine Gefühle und Bedürfnisse nennen kann. Beziehung konstruktiv gestalten bedeutet immer, dass wir uns authentisch und verletzlich zeigen müssen (LINK Brene Brown). Zu sagen was ich will (‚Nimm deine Finger aus der Butter!‘) ist dabei wenig hilfreich. Zu sagen was ich fühle und brauche (‚ Örgs, das mag ich nicht, das finde ich eklig‘) öffnet unsere Perspektive hin zur Lösung.
Vor jedem Nein sagen ist es also hilfreich, erstmal zu atmen. Langsam bis fünf zu zählen und mich zu fragen – worum geht es mir? Und WIE geht es mir? (Ausnahmen bestätigen die Regel. Läuft dein Kind vor ein Auto gilt das natürlich nicht!)

Lösungen statt Probleme

Das ist eines der absolut geilsten Dinge, wenn ich Erziehung hinter mir lasse: Die Fokussierung auf Lösungen. Nein sagen zu einer Sache bedeutet in meinen Augen immer und vor allem, ja sagen zu etwas anderem. Du willst nicht, dass dein Kind jetzt noch badet, weil Abendbrotzeit ist? Vielleicht kannst du Ja  sagen zu einem Campingessen an der Badewanne. Du willst nicht, dass dein Kind dich haut, wenn es frustriert ist? Vielleicht kannst du ja sagen zu einem gemeinsamen Boxtraining. Versteh mich nicht falsch: Lösungsorientiert zu denken bedeutet auf keinen Fall, dass wir immer Lösungen finden. Es bedeutet, dass wir wissen: Es ist mein Job und meine Verantwortung, das Beste aus der Situation zu machen.

Und was ist nun mit dem Nein?

Ich finde Nein sagen ja immer dann wirklich schön, wenn das ‚Ja‘ dahinter spürbar ist. Wenn ich nicht ’nein, ich habe keinen Bock zu spielen‘ sage sondern ‚ich mag gerade sitzen bleiben, ich bin müde‘. Dann ist das Ohr nämlich auch noch offen dafür, eine Lösung zu finden die jenseits von gewinnen und Verlieren liegt.

Was ist aber, wenn es keine Lösung gibt?
Das kommt vor. Manchmal sind die Optionen bescheiden – der Schulzwang wäre so ein Beispiel. Ein Kind jeden Tag zu der Kooperationsleistung zu bewegen, einen Ort zu betreten an den es gehen muss, ob es will oder nicht, das ist eine echte Mammutaufgabe für manche Eltern.
Und die Optionen sind limitiert. Verweigern? Schulwechsel? Mit den Behörden anlegen und zu Hause lassen? Auswandern? Ich erlebe solche Situationen immer als beziehungsdienlich, wenn wir uns bewusst machen, dass wir a) sehr wohl eine Wahl und damit die Verantwortung haben und b) das nicht bedeutet dass es irgendwie toll ist. Ja, manchmal ist Familie anstrengend und traurig und herausfordernd. Das ist so. Und je mehr wir uns wünschen dass es nicht so ist, desto mehr signalisieren wir dem Kind und uns: Traurig sein, frustriert sein, Konflikt haben, das alles ist schlecht. Aber es ist schon da! Viel schöner als so zu tun als wäre das Mist, ist, die Situation anzuerkennen und miteinander zu gehen statt gegeneinander.

Mir wurde das schmerzhaft bewusst, als ich schwanger mit meinem dritten Kind war. Mir war nämlich schlecht. Monatelang. Jeden verdammten Tag. Und die Rate an ‚Neins‘ an meine Kinder schoss nach oben. Nein, ich will nicht spielen, ich ruhe mich aus. Nein, ich kann dir kein Brot schmieren, ich muss mal eben kotzen gehen. Nein, ich will die Geschichte nicht vorlesen, ich möchte allein im Dunkeln liegen. Je mehr ich kämpfte, gegen mich, meine Schwangerschaft und meine Kinder, desto schrecklicher wurde es. Ich schrie meine Neins – verdammt nochmal, können die das denn nicht verstehen?! Ich hänge über der verdammten Schüssel und die quängeln noch! Bis ich begriff: Wir stecken da zusammen drin. Wir sind keine Feinde. Und plötzlich war es blöd, aber okay. Wir kuschelten zusammen, schimpften über das Kotzen und guckten in Endlosschleife Filme. So war das. Und es ging vorbei. Gemeinsam damit zu leben, dass das Leben anstrengend und unfair ist, ist etwas anderes als dem Kind stumpf ’nein‘ zu sagen. Hinter dem Nein steht eine Entscheidung. Eine schwere, ja. Vielleicht auch eine
falsche – das wird die Zeit zeigen. Aber es ist eine und es ist unsere. Die Beziehung zum Kind wird massiv entlastet, wenn die Entscheidung bei uns bleibt, bei den Erwachsenen, denen das Kind ausgeliefert ist.

Nein sagen aus der Verantwortung heraus

Und da sind wir schon beim Kern der Sache: Unsere Kinder sind in einem einzigartigen Machtverhältnis zu uns. Das zu Leugnen ist nicht hilfreich. Aber wir tun gut daran, unsere Macht so einzusetzen, dass sie uns dient. Und nicht ‚den anderen‘, der Schule oder unserer Angst, dass das Kind ein verzogenes Gör werden könnte.

Unsere Macht setzen wir ein, wenn wir Nein sagen. Und es hilft, dieses Nein beweglich zu halten – vielleicht kommt ja noch ein guter Grund dagegen? Oder ich merke, dass ich etwas Wesentliches nicht bedacht haben? Vielleicht kann unser Kind ganz und gar nicht kooperieren und ich darf mich doch nochmal aufraffen und spielen? Ja, und manchmal bleibt unser Nein das Nein. Und je seltener das ist, desto eher ist unser Kind dann auch bereit da mitzugehen: wenn es so definitiv ist, muss es wichtig sein, ist die Logik. Und kein Kind hat ein vitales Interesse daran, dass die eigenen Eltern nicht auf sich achten. Es ist nur nicht ihr Job das zu tun.
Ich finde, je weniger wir in ‚Grenzen‘ denken desto weniger ist es Kampf. Da geht es am Ende nicht mehr darum, wer wem auf der Nase herumtanzt, sondern ob wir alle bekommen was wir brauchen. Desto mehr ist es Miteinander. Beziehung eben. Es lohnt sich.

Ruth ist Kulturwissenschaftlerin, Soziologin und Mutter von drei Kindern. Nachdem ihr zweites Kind geboren wurde, entdeckte sie für sich „unerzogen“ als Weg und machte sich bereit, über das Familienleben neu nachzudenken und andere Wege zu gehen. Lange hat sie auf unerzogen-leben.de über ihren Weg gebloggt, nun unterstützt sie Eltern mit der Elternakademie Der Kompass

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