Tag: 16. November 2013

“Also mein Kind kann schon…” – Warum wir uns von anderen nicht aus dem Konzept bringen lassen sollten

Meine Tochter war 4 Monate alt, als ich zum ersten Mal mit “Also mein Kind kann…” konfrontiert wurde. Ich war in einem PEKIP-Kurs und die Mutter, die neben mir saß, blickte mich an. “Also Kiama kann sich ja schon ganz toll vom Rücken aus den Bauch drehen. Aber keine Sorge, Dein Kind entwickelt sich schon auch noch!” Ich war sprachlos. Ich habe lange überlegt, ob ich auf diesen Satz eingehe oder nicht und entschloss mich schließlich dagegen. Wofür ich mich entschloss war, dass ich diesen Kurs nicht weiter besuchen wollte. Auch heute noch nach vier Jahren denke ich oft an diese Szene. Sie hat mich während meiner Arbeit oft ermahnt, genau hin zu sehen und auf Worte zu achten, denn ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man so etwas gesagt bekommt.

Dieses also war das erste Mal, dass ich mit diesem Satz in Kontakt kam. Aber es war nur der Auftakt einer langen Reihe von “Mein Kind kann schon…”. Obwohl man denkt, dass sich dieser Satz irgendwann im Sande verläuft, ist es nicht so. Denn nun, vier Jahre später, ist es nicht mehr das Drehen vom Rücken auf den Bauch (das die Tochter zweifelsfrei mittlerweile erlernt hat), nun sind es andere Dinge. Zum Beispiel das Schreiben und Lesen. Kürzlich waren wir auf einem Spielplatz und die unbekannte Mutter neben mir fragte, wann denn meine Tochter in die Schule kommen würde. “Ach, ich denke, im übernächsten Jahr mit sechseinhalb.” “Schön, wenn Ihr Euch da noch so viel Zeit lassen könnt. Also meine Tochter kann ja mit vier schon ganz toll schreiben und fängt jetzt sogar mit dem Lesen an! Ja, was soll ich da machen? Ich kann sie ja nicht so lange zu Hause lassen, da langweilt sie sich ja. Und es ist ja nicht so, dass ich sie anspornen würde. Das macht sie ganz von sich aus.” “Ja, wie unterschiedlich die Kinder so sind…” Die Tochter der fremden Frau kommt angerannt, klettert auf ihren Schoß. Die Frau nimmt aus ihrer Tasche ein Buch. “Magst Du der Mama was vorlesen? Was steht da drauf?”

Entwicklung hat ihren eigenen Zeitplan

Eigentlich wissen wir es doch. Wir haben es schon tausend Mal gelesen: Jedes Kind hat seinen eigenen Zeitplan. Auch wenn der Ablauf der einzelnen Entwicklungen bei jedem Kind in etwa gleich ist (erst drehen, dann robben, dann…), schwankt der Zeitplan von Kind zu Kind. Manch eines krabbelt mit 6 Monaten, ein anderes mit 12. Und so bleibt es auch! Auch alle anderen späteren Entwicklungsschritte machen Kinder zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten: Ohne Windeln auskommen, Lesen, Schreiben usw. Und natürlich spielt bei den höheren kognitiven Fähigkeiten wie dem Lesen und Schreiben auch das Vorbild und die Übung mit hinein. Doch letztlich sind Kinder nun einmal unterschiedlich. Und eigentlich ist das ja auch schön, denn wir wollen ja nicht, dass unser Kind genau so ist wie das vom Nachbarn.

Wir schauen zu viel auf das Handfeste

Und noch etwas ganz anderes ist wichtig: Unser Augenmerk richten wir meist auf die handfesten Dinge. Auf das, was man gut beobachten kann. Zum Beispiel eben, wann das Kind krabbelt, frei läuft, auf einem Bein hüpft. Aber in der kindlichen Entwicklung gibt es ja nicht nur die Grobmotorik oder die ebenfalls noch leicht zu erkennende Feinmotorik oder Sprachentwicklung. Nein, es gibt auch andere Bereiche wie soziale Fähigkeiten, Umgebungsbewusstsein, Körperwahrnehmung. Das sind allerdings Dinge, die uns nicht so sehr ins Auge fallen. Selten hört man ja den Satz: “Oh, Dein Kind kann ja unglaublich gut Zusammenhänge herstellen.”

Auch kulturell und sozial geprägt ist der Blick der Erwachsenen auf das Kind: Sehr soziale oder emotionale Kinder werden nicht unbedingt in der Stärke dieser Merkmalsausprägung wahrgenommen, sondern eher negativ bewertet als Heulsusen, kleine Emos, Mauerblümchen, typische Geschwisterkinder oder oder. Lesen und Schreiben können gilt als toll, mit anderen mitzuweinen als unangenehm und unpraktisch.

Sich selbst aufwerten über die Fähigkeiten der Kinder?

Manchmal steckt hinter dem “Also mein Kind kann schon…” auch einfach nur eine verunsicherte Mutter oder ein verunsicherter Vater. Jemand, der einfach gesagt bekommen muss, dass er das gut macht mit seinem Kind. Denn woran wird heute “erfolgreiche” Elternschaft gemessen? Viele Eltern bekommen nur ein, höchstens zwei Kinder. Sie konzentrieren all ihre Wünsche für die Zukunft auf dieses eine oder diese zwei Kinder. Natürlich wollen wir alle, dass es unseren Kindern gut geht, dass sie erfolgreich durch ihr Leben gehen als starke Persönlichkeiten. Sie sollen es gut haben und wir wollen ihnen einen guten Start geben. Manche Eltern drücken das in früher Förderung aus. Sie kümmern sich ganz vehement darum, dass das Kind zur musikalischen Früherziehung kommt, schwimmen lernt und schreiben kann vor der Schule. Damit es einen “guten Start” hat. Und wenn es das dann kann, dann können sie sich sagen, dass sie gute Arbeit geleistet haben, weil sie es dem Kind ja ermöglicht haben. Statt auf die Diskussion, was die Kinder also alles so können, einzugehen, reicht manchmal auch ein “Wow, Du gibst Dir viel Mühe mit Deinem Kind.”

Zahlen

Selbstsicher sein und das dem Kind zeigen

Unsere Kinder sind nun einmal, wie sie sind. Es gibt Gründe dafür, warum sie so sind, wie sie sind. Und ja, meine Tochter kann mit vier Jahren noch nicht lesen und schreiben. Ich finde auch, dass sie das nicht können muss. Ich finde, sie darf so lange Kind sein, wie sie das möchte. Denn wer liest und schreibt, der denkt auch anders und ich möchte ihr ihr kindlichen Denken noch eine Weile erhalten. Am Anfang war es mir manchmal unangenehm, wenn andere Kinder Dinge besser oder überhaupt konnten und meine Tochter nicht. Aber einmal fragte sie mich direkt nach einem Besuch einer Freundin: “Muss ich denn das auch schon können?” Ich hatte gedacht, dass sie gar nicht mitbekommen hätte, dass der Besuch der Meinung war, dass Kinder in diesem Alter schon ihren Namen schreiben können müssen. Ich nahm sie in den Arm und erklärte ihr, dass sie irgendwann auch ihren Namen schreiben können wird – wenn sie soweit ist und Lust darauf hat. Gelernt habe ich dabei, dass es für mein Kind wichtig ist, dass ich es so annehme, wie es ist und auch hier ganz hinter ihr stehe. Dass ich nicht auf dieses blöde Spiel “Dein Kind kann vielleicht das, aber mein Kind kann das und das” eingehe. Ich sage einfach ganz klar, dass mein Kind etwas kann oder nicht und dass ich das auch so richtig finde wie es ist. Aus die Maus. Keine weiteren Diskussionen darum, ob irgendwer was besser kann oder was anders oder sonstwas.

Unsere Kinder brauchen uns. Sie brauchen, dass wir hinter ihnen stehen und sie toll finden. So, wie sie sind. Ob sie schwimmen können, lesen, auf einem Bein hüpfen oder eben all das noch nicht. Niemand hat mich in meinem ganzen Leben danach gefragt, wann ich mein Bronzeabzeichen gemacht habe. Dabei gehörte ich doch zu denen, die das ganz früh hatten mit. Aber es war später nie mehr wichtig. Und so ist es mit vielen Dingen: Wann die Kinder sich drehen, laufen, schreiben, lesen. Natürlich hat alles seine Grenzen und irgendwann gibt es tatsächlich Punkte, an denen man genau hinsehen muss, wenn ein Kind eine bestimmte Fertigkeit noch nicht kann. Meistens aber verlangen wir viel zu früh von uns und unseren Kindern, dass sie irgendwas können sollten.

Meine Kinder sind toll. so wie sie sind. Und Eure sind es auch – auch, wenn sie ganz anders sind als meine.