Monat: August 2022

Neugeborene Eltern

Wir lesen und reden so viel davon, wie sich der Erfahrungsraum des Babys durch die Geburt verändert: Es fühlt andere Dinge als zuvor, es riecht anderes, es sieht anderes. Nie zuvor hat es Kleidung getragen oder war kühlen Luftzügen ausgesetzt, wenn es gewickelt wurde. Es taucht in eine neue Welt ein, in der es nur wenige Berührungspunkte gibt zum Erleben zuvor. Eine Welt, in der es alles kennenlernen muss und möchte – mit der fortschreitenden geistigen und körperlichen Entwicklung erweitert sich auch der Erfahrungsraum nach und nach.

Auch für Eltern ist alles neu

Während es uns schon oft gelingt, gütig auf unsere Kinder zu blicken, fällt der Blick auf uns selbst aber oft weniger wohlwollend aus. Obwohl auch wir Eltern neu sind in all diesen Themen. Für viele Eltern ist das Anziehen des Babys nach der Geburt das erste Mal, dass sie ein Neugeborenes bekleiden und den kleinen Körper in einen winzigen Babybody hüllen. Es ist das erste Mal, eine Windel zu wechseln und die erste schlaflose Nacht, in der man sich fragt, was nur das Baby hat und warum es nicht schläft. Es ist das erste Mal, diese riesige Verantwortung zu tragen und das erste Mal, mit einem Menschen zu kommunizieren, der noch nicht spricht und die Welt so anders sieht und fühlt, wie es eben ein kleines Kind tut.

Und selbst dann, wenn es das zweite, dritte,… Kind ist, ist dieses Kind sehr wahrscheinlich nicht in allen Verhaltensweisen identisch mit den Kindern, die man schon kennt. Jedes Kind kommt mit verschiedenen Temperamentsdimensionen zu uns, ist reagiert stärker oder schwächer auf Reize, ist schneller oder langsamer zu trösten, braucht mehr oder weniger Körperkontakt bei der Co-Regulation.

Neben dem Verhalten in Bezug auf das Kind verändert sich gleichsam auch die Umgebung: Wenn es mehrere Elternteile gibt, verändert sich die Beziehung untereinander dadurch, dass nun ein Baby mit Bedürfnissen dazugekommen ist. In der Familie werden Eltern durch die Geburt eines Kindes zu Großeltern, ihre Kinder werden zu Eltern und müssen fortan Entscheidungen treffen, die das eigene Kind im Blick behalten und die eigene Eltern-Kind-Beziehung verändert sich. Selbst Freundschaften können sich dadurch verändern, dass eine Person des Freundschaftsnetzwerkes ein Kind bekommen hat.

Wir wachsen hinein – und das ist gut so

Wir denken so oft, dass wir die Antwort auf alles haben müssten. Schließlich sind wir Erwachsen. Schließlich sollten Eltern doch unfehlbar sein und einen Plan von der Welt und allem haben. Tatsächlich aber bringen wir nur ein paar Basics mit in dieses Elternsein: Hormone, die ausgeschüttet werden wie Oxytocin und Prolaktin. Fürsorgeverhalten, das dadurch entsteht (manchmal aber auch durch die eigene Erziehung oder gesellschaftlichen Druck überlagert werden kann). Der wesentliche Teil ist, dass wir uns als Eltern auf dieses Kind einstimmen müssen. Und das ist gleichsam Herausforderung wie Vorteil: Denn weil Kinder nicht alle gleich sind, müssen wir Eltern hineinwachsen in diese neue Aufgabe. Wir müssen lernen, wie unser Kind ist, was es braucht, welche Signale es gibt. Wir müssen lernen und sind eben nicht von Anfang an richtig eingestellt und haben alle Antworten.

Deswegen: Sei nachsichtig mit dir. Natürlich gibt es Dinge, die wir immer vermeiden sollten bei allen Kindern: jede Form der Gewalt. Aber jenseits davon ist das Begleiten von Kindern Versuch – Irrtum – erneuter Versuch. Manchmal finden wir schnell die richtige Antwort, manchmal dauert es etwas, manchmal finden wir selbst sie vielleicht gar nicht. Manchmal machen wir Fehler, die sich vielleicht im liebevollen Alltag verlieren. Oder wegen denen wir um Entschuldigung bitten müssen oder Hilfe von anderen brauchen. All das ist Elternschaft. Elternschaft ist Wachstum, Irrtum, Hoffnung, Liebe, aber vor allem ist es ständige Bewegung. Sieh gütig auf dich und dein Wachstum. Auch du bist neugeboren in dieser Eltern-Kind-Beziehung.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Versöhnung nach dem Eltern-Kind-Streit

Streit kommt in Familien vor: zwischen den Eltern, zwischen Geschwistern, zwischen Elternteil und Kind. Natürlich ist es hilfreich, Streit da, wo es geht, durch überlegtes Handeln zu vermeiden, aber er ist nicht immer so schädlich für das Familienklima, wie manchmal behauptet wird – sofern er gut ausgetragen wird. Lange Zeit wurde angenommen, dass Streit zwischen Elternteilen vermieden und wenn doch, dann nicht vor dem Kind stattfinden sollte. Untersuchungen zeigen aber, dass nur destruktive Paarkonflikte problematisch sind, die verbale oder physische Aggressivität, Blockadeverhalten, Rückzug, Meidung oder andere Feindseeligkeit beinhalten, die dazu führen können, dass beispielsweise das Gefühl der emotionalen Sicherheit des Kindes verringert wird. Konstruktive Konfliktbewältigung ist hingegen nicht von Nachteil.

Gerade wenn das Kind Zeuge des Elternkonflikts ist, ist es hilfreich, wenn es auch dessen Lösung erfährt.

Susanne Mierau “New Moms for Rebel Girls” S.193

Konstruktive Problemlösung ist hilfreich

So, wie bei Streitigkeiten in der Paarbeziehung, ist es auch bei Streitigkeiten zwischen Geschwistern wichtig, dass der Konflikt konstruktiv gelöst wird. Und auch bei Streitigkeit zwischen Eltern und Kind kommt es auf konstruktive Lösungen an: In einem familiären Streit geht es darum, die Perspektive der anderen Person einzunehmen, zu verstehen und eine gemeinsame, sinnvolle Lösung zu finden. Durch einen konstruktiven und gerechten Umgang mit Konflikten in der Familie kann das Kind lernen, diese Problemlösungstrategie auch auf außerfamiliäre Situationen zu übertragen – eine wichtige Fertigkeit für das weitere Leben.

Zudem ist es im Rahmen des Bindungssystems wichtig, dass die nahen Bezugspersonen als sichere, wissende und starke Begleitung dem Kind eine Orientierung bieten. Gerade dann, wenn das Kind im Baby-, Kleinkind- oder auch noch Vorschulalter nicht konkret benennen kann, wie es sich fühlt, was es gerade als Problem wahrnimmt, ist es wichtig, dass sich die Bezugsperson in das Kind hineinversetzt und versucht, die Ursache wertfrei zu ergründen, um dann eine Lösung zu finden.

Das ist manchmal gar nicht so leicht: Unsere eigenen Empfindungen können uns dabei im Weg stehen, objektiv auf die Situation zu blicken. Auch verinnerlichte Glaubenssätze (beispielsweise dass Konflikte Machtkämpfe wären und Eltern immer Recht behalten müssen, damit sie ihre Autorität nicht verlieren) können es erschweren, konstruktiv mit einem Konflikt umzugehen.

Versöhnung nach dem Streit

Neben der Lösung des konkreten Problems ist es hilfreich, wenn nach dem Konflikt auch die Beziehungsebene noch einmal thematisiert wird: Es kann besprochen werden, dass es einen Streit gab, gemeinsam eine Lösung gefunden wurde und viele Gefühle daran beteiligt waren. Dass es Streit gibt, ist normal. Das sollten auch Kinder erfahren und nicht Angst oder Vermeidungsverhalten in Bezug auf Streitigkeiten entwickeln, weil sie in der Familie tabuisiert werden. Der Fokus auf die Beziehungsebene vermittelt: Streit kommt vor, aber ich habe dich mit deinen Bedürfnissen gesehen und verstanden und bin trotz unserer unterschiedlichen Meinung für dich da und suche mit dir eine Lösung, damit es uns besser geht. Das Kind kann noch einmal nachvollziehen, was passiert ist und bekommt vermittelt, dass eine Beziehung von Offenheit und Respekt gelebt wird.

Nicht immer ist eine Lösungsfindung schnell und einfach. Manchmal muss ausprobiert werden, was funktioniert und was nicht. So dauert es manchmal mit der Beseitigung des Streits etwas. Die Versöhnung muss auch nicht daraus bestehen, dass beide Seiten wieder gute Laune haben, sondern daraus, anzuerkennen, dass es verschiedene Perspektiven und Empfindungen gab und man als Bezugsperson dennoch sicher zur Verfügung steht und das Kind weiterhin liebt. Das Kind hat auch das Recht, nicht sofort wieder gute Laune haben zu müssen. Manchmal braucht es etwas Zeit, bis der Ärger wirklich verflogen ist. Auch das ist in Ordnung. Das Kind sollte wissen, dass es sich jederzeit vertrauensvoll an die Bezugsperson wenden kann mit seinen Gefühlen, da wir als Erwachsene die Schutz- und Regulationsfunktion für das Kind erfüllen und dies auch im Konfliktfall tun.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de