Fürsorge(-arbeit) – Über die Arbeit, die Eltern heute leisten für ein gutes Aufwachsen von Kindern

Das Bindungssystem ist in erster Linie ein Schutzsystem des Kindes. Es sorgt dafür, dass Kinder umsorgt und geschützt werden, mit all dem versorgt werden, was sie zum Wachsen benötigen: das beinhaltet sowohl die äußeren Faktoren wie Nahrung und Sicherheit in Verhütung von Gefahren, als auch die inneren Faktoren, die wir dem Kind angedeihen lassen, damit es sich gut entwickeln kann und im besten Fall mit einem guten Bild von sich selbst aufwächst, das es in den vielen weiteren Jahren stützt in der Auseinandersetzung mit der Umwelt.

Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat sich daher das Bindungssystem ausgebildet: Ein Verhaltenssystem, das dafür sorgt, dass Kinder sich in den ersten Jahren an mindestens eine schutzgebende Person binden und mit ihrem Verhalten dafür sorgen, dass sich diese Person um sie kümmert. […] Das Bindungssystem ist so wichtig für das Kind, dass es allen anderen (Entwicklungs-)aufgaben vorgelagert wird.

S. Mierau (2021): Frei und unverbogen, S. 30.

Fürsorge meint, dass ich für das Kind so sorge, wie es das braucht

Unsere Aufgabe als Eltern ist daher vor allem die Fürsorge: das Sorgen für das Kind. Und dieser Begriff der Fürsorge zeigt uns bereits einen sehr wichtigen Aspekt der wichtig ist für die Haltung, die wir als Eltern gegenüber unserem Kind einnehmen sollten: Die Ausrichtung auf das Kind und dessen Wesen und Bedürfnis. Wir sorgen dafür, dass dieses Kind individuell gesehen und begleitet wird.

Fürsorge meint nicht, dass wir das Kind hineinpressen in unsere Vorstellungen, dass es sich unseren Vorstellungen anpassen muss davon, wie es ist, was es mag und welche Eigenschaften es mit sich bringt. Sondern dass wir es genau so annehmen, wie es ist und dafür sorgen, dass es sich auf seinem ganz individuellem Weg optimal entfalten kann. Wir tragen Sorge dafür, dass es dem Kind jetzt und zukünftig gut geht. – Natürlich ist es dabei auch wichtig, auf sich selbst zu achten und die eigenen Bedürfnisse nicht aus dem Blick zu verlieren.

Fürsorge ist auch Arbeit

Dieses Erkennen und Begleiten eines Kindes ist nicht immer einfach. Weil das Kind vielleicht mit einem Temperament zu uns kommt, das für uns schwierig ist und sich von unserem unterscheidet oder in besonderer Weise herausfordernd ist. Es ist nicht immer einfach, weil es Aufmerksamkeit verlangt dafür, dass wir die Signale des Kindes wahrnehmen, richtig interpretieren und – je nach Alter prompt – beantworten. Und diese Signale ändern sich im Laufe der Zeit und manchmal fällt es schwer, die neuen Signale beispielsweise nach einem Entwicklungssprung wahrzunehmen und zu interpretieren. Und manchmal bedeutet diese Fürsorge auch, dass wir den ganzen Tag einem Kind hinterrennen müssen, dass die Autonomie entdeckt und am Ende nicht nur von der emotionalen Begleitung erschöpft sind, sondern auch von den tausenden Handgriffen, die sie erfordern.

Neues Erziehungsdenken gestalten ist auch Arbeit an sich selbst

Fürsorgearbeit ist es auch da, wo wir merken, dass wir uns von eigenen Erfahrungen trennen wollen und andere Wege gehen möchten als die, die wir selbst als Kind erfahren haben. Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung und dies umfasst sowohl das Recht darauf, vor körperlicher als auch psychischer Gewalt geschützt zu werden. Das Umsetzen dieses Rechts fällt aber noch immer vielen Eltern schwer. Je nach eigenem Rucksack, den wir tragen, ist es schwierig, sich von den verinnerlichten Mustern zu trennen: sie zunächst als falsch erkennen, sie im Alltag zu bemerken und schließlich zu lernen, ganz bewusst anders zu handeln. Das erfordert sehr viel Kraft und Arbeit an uns selbst. Und dennoch ist es besonders lohnenswert, wenn wir alte Muster aufbrechen, um Verletzungen nicht mehr weiterzugeben oder entstehen zu lassen, sondern Kindern die Chance geben, psychisch gesund aufzuwachsen, um im späteren Leben nicht durch diese Erfahrungen belastet zu werden.

Kraft, Kinder im Alltag zu schützen

Und auch auf einer weiteren Ebene bedeutet diese Art der Fürsorge Arbeit: Weil wir nicht nur an unseren eigenen Mustern arbeiten und uns damit auseinander setzen müssen, sondern unsere Kinder auch da schützen, wo sie anderen Ansichten ausgesetzt sind. Weil wir Familienmitgliedern erklären müssen, dass Kinder nicht ein Küsschen zur Begrüßung geben, wenn sie das nicht wollen. Weil wir im Supermarkt die hochgezogenen Augenbrauen entweder ignorieren oder erklären, warum wir nicht „den Po versohlen“ wenn das Kind wütend ist. Weil wir uns vielleicht in der Kita dafür einsetzen müssen, dass wir eine andere Art der Eingewöhnung brauchen, weil das Kind es in dem gesteckten Zeitfenster noch nicht schafft, sich an eine neue Bezugsperson zu wenden, oder weil wir alte Erziehungsmethoden dort in Frage stellen. All das kostet ebenfalls Energie. Es ist anstrengend, nicht nur in sich selbst, sondern in der Gesellschaft eine Offenheit und Akzeptanz für einen neuen Weg der Begleitung von Kindern zu etablieren.

Gesellschaft verändern

Die Arbeit, die wir täglich leisten – an uns selbst, für unsere Kinder und gegenüber der Gesellschaft – ist umfassend. Viel zu oft wird übersehen, welch enorme Anstrengungen Eltern und andere Personen in der Begleitung von Kindern jeden Tag leisten, gerade auch wenn sie neue, respektvolle und gewaltfreie Wege mit Kindern gehen. Wie sie die Gesellschaft durch die Fürsorgearbeit, die sie so ungesehen vollbringen, verändern. Und über die Fürsorgearbeit jene Werte, die über bindungs- und bedürfnisorientiertes Leben transportiert werden (Werte wie Achtsamkeit, Empathie, Gleichheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Nachhaltigkeit und Weitsicht) in der Gesellschaft verankern.

Fürsorgearbeit bzw. Carearbeit sind auch Arbeit. Auch wenn wir unsere Kinder lieben und gerne begleiten. Diese Arbeit verdient Respekt und Wertschätzung an jedem einzelnen Tag gegenüber den Personen, die sie leisten.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Der #equalcareday macht auch in diesem Jahr wieder aufmerksam auf die mangelnde Wertschätzung und unfaire Verteilung von Carearbeit. Mehr dazu findet ihr hier.

Wer sich damit auseinandersetzen möchte, wie wir Erziehung heute neu denken und bindungs- und bedürfnisorientiertes Familienleben gestalten können, findet hier eine ausführliche Leseprobe von „Frei und unverbogen“.

Foto: Ronja Jung für geborgenwachsen.de

2 Kommentare

  1. Frede Rike

    DANKE!
    Es tut so gut, diese Anerkennung der täglichen „Arbeit“ zu lesen – auch wenn wir sie uns ausgesucht haben und gerne übernehmen.
    Danke, dass du diese Arbeit mit diesem Beitrag und an anderen Stellen „sichtbar“ machst.
    Danke für deinen unermüdlichen Einsatz für Kinder und dass du mit deiner großen Reichweite so viele Menschen dafür sensibilisierst, die ganze Facette ihrer Gefühlswelt zu sehen und anzunehmen.
    Du bist ein Geschenk! 🙂

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