Erziehung ist keine Frage des Labels, sondern des Gefühls

Aber wie genau erziehe ich denn jetzt richtig? So oder so ähnlich ist es oft von Eltern zu hören. Dabei schwingt immer die Frage mit nach einem konkreten Plan, einem Ablauf, einer Handreichung. Selbst in Bezug auf die bindungs- oder bedürfnisorientierte Elternschaft sind viele Eltern unsicher, wie das nun genau geht, was dafür getan werden muss und was vielleicht auch ganz falsch ist. Die Antwort aber ist: Es gibt keinen Plan. Es geht darum, zu verstehen, was dein Bedürfnis ist, was eure Bedürfnisse als Paar sind (sofern es Elternpaar gibt) und was das Bedürfnis deines Kindes ist – und dabei die Schnittmenge zu finden.

Starre Pläne sind nicht bedürfnisorientiert

Wenn wir Erziehung nach Plänen und Anleitungen denken, dann trägt das immer eine gewisse Starrheit mit sich, die den Alltag erschwert: Alle Babys müssen gestillt werden – aber was wenn es nicht geht, sich nicht gut anfühlt für den stillenden Elternteil oder es sonstige Hindernisse gibt? Alle Babys müssen getragen werden – aber was, wenn sich diese Art der Nähe nicht gut anfühlt, man dabei unruhig wird oder das Kind in der Trage immer Unbehagen äußert? Kleinkinder müssen in den Kindergarten, weil sie gleichaltrige Kinder brauchen – aber was, wenn mein Kind nicht will oder die Rahmenbedingungen im Kindergarten nicht stimmen, weil es zu voll, zu laut, zu unübersichtlich ist? Diese Liste lässt sich lang fortsetzen und zeigt uns vor allem eines: Wir alle sind unterschiedlich. Sowohl wir Erwachsenen mit unseren jeweiligen persönlichen Lebensgeschichten und Eigenschaften, als auch unsere Kinder mit ihren Temperamenten und Persönlichkeitseigenschaften.

Bedürfnisorientierung kann verschieden aussehen

Um diese Unterschiedlichkeit geht es in der Bedürfnisorientierung: Es geht darum, einen Blick für das Kind zu bekommen und sein ganz persönliches Wesen und dieses mit den uns gegebenen Fähigkeiten zu begleiten. Es geht darum, uns einzufühlen in uns selbst mit unseren Bedürfnissen und in unser Kind mit dessen Bedürfnissen. So wird im Rahmen dieser Bedürfnisse jede Familie auch unterschiedliche Entscheidungen treffen und dennoch ist sowohl die Familie, die Brei als Beikost füttert bedürfnisorientiert als auch jene, die das Kind von Anfang an vom Familientisch mitessen lässt – wenn dabei die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Kindes und der Familie in den Blick genommen werden und ein gewaltfreier, unterstützender Weg eingeschlagen wird. Das Bedürfnis in diesem Beispiel ist Nahrung und dieses setzen wir so um, dass wir dabei andere Bedürfnisse (Sicherheit, Selbstwertgefühl etc.) berücksichtigen.

Bedürfnisorientiert mit Kindern zu leben bedeutet vor allem, die Individualität aller in den Blick zu nehmen und ein „individual parenting“ zu gestalten mit den Werten, Bedürfnissen und Vorstellungen, die uns persönlich wichtig sind. Orientiert an den Grundbedürfnissen von Menschen.

S. Mierau „Mutter.Sein“ S. 83

Bedürfnisse erfüllen – daran können wir uns orientieren:

Bedürfnisse sind sowohl auf körperlicher als auch psychischer Ebene zu finden: Die Bedürfnis nach Nahrung, Schlaf, Sicherheit, Wärme existieren beispielsweise neben psychischen Bedürfnissen nach Bindung, Kontrolle/Selbstbestimmung, Lust/Unlustvermeidung und Bedürfnis nach Selbstwert.

Es hat sich ein wenig in uns ein gebrannt, dass wir als Eltern und besonders als Mütter die Bedürfniserfüller*innen sein müssten: Jene, die immer alle Bedürfnisse sofort erkennen, Signale richtig interpretieren und dann die passende Antwort darauf finden. So stellen wir uns irgendwie gute Eltern und ganz besonders gute Mütter vor. Dieser Gedanke beinhaltet aber gleich mehrere Fehlerpunkte:

  • Je jünger das Kind, desto prompter sollten wir zugewandt sein, wenn das Kind ein dringendes Grundbedürfnis signalisiert. Aber: Es ist normal und total in Ordnung, dass wir manchmal Fehler machen. Und nicht nur das: Kinder profitieren sogar von diesen Fehlern, weil sie Fsrustrationstoleranz ausbilden können und Selbstregulation. Das hat natürlich seine Grenzen und muss von Kind zu Kind individuell betrachtet werden je nach Temperament und sonstigen Faktoren. Aber prinzipiell: Wir müssen nicht immer richtig liegen und sofort die Antwort wissen.
  • Oft denken wir, dass wir als Eltern Erfüller*innen sein müssen. Aber es ist total okay, zu erkennen, dass wir manche Sachen nicht gut können und das auslagern: Das Kind mag basteln, wir hassen basteln, dann können wir das auslagern zu Freundin, so gerne bastelt. Wir wollen/müssen arbeiten gehen, aber der andere Elternteil/Großeltern/Babysitter,… kümmern sich wunderbar und liebevoll um das Kind: wie toll und kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Die Begleitung von Kindern ist eine Gemeinschaftsaufgabe – oder sollte es sein. In Gemeinschaft steckt viel Entlastung, Kraft und Unterstützung.
  • Bedürfniserfüllung ist nicht an ein Geschlecht gebunden und auch nicht an Verwandtschaftsgrade. Feinfühligkeit ist dafür wichtig.

Es hilft uns nicht, wenn wir uns starr an bestimmten Worten festhalten. Es schränkt uns ein, lässt uns weniger flexibel sein. Und es gibt uns per se ein schlechtes Gefühl, wenn wir abweichen von der Checkliste, von der wir denken, dass wir uns an sie halten müssten. Wir fühlen uns schuldig, auch wenn wir gerade deswegen abweichen, weil wir erkennen, dass wir uns flexibel an Bedürfnissen orientieren müssen. Bedürfnisorientiert mit Kindern zu leben bedeutet vor allem, die Individualität aller in den Blick zu nehmen und ein „individual parenting“ zu gestalten mit den Werten, Bedürfnissen und Vorstellungen, die uns persönlich wichtig sind. Orientiert an den Grundbedürfnissen von Menschen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

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