Tag: 21. April 2020

Rückzug und Selbständigkeit im Nahbereich der Eltern

Wenn wir an Rückzug und Ruhe denken, denken wir oft an die Bedürfnisse von Eltern und weniger daran, dass das natürlich auch Bedürfnisse von Kindern sind. Auch Kinder brauchen Rückzugsräume und dann Ruhe, wenn sie es brauchen – was nicht immer mit unserem Urteil übereinstimmt. Und gerade dann, wenn Kinder sehr viel Zeit im Nahbereich der Eltern verbringen und sich „unter ihren Augen“ entwickeln, sind Räume für den Rückzug, für Heimlichkeit und Selbständigkeit besonders wichtig.

Im elterlichen Nahbereich

Kindheit findet heute ohnehin viel mehr im Nahbereich der Eltern statt: Kinder entfernen sich weniger weit von ihrem Zuhause ohne Eltern, es gibt mehr „Spielinseln“, zu denen Eltern ihre Kinder bewegen (Kindergarten, Sportvereine, Musikschule,…), als dass Kinder sich alleine und selbständig bewegen und auch zu Hause haben Kinder weniger Freiraum für ihr Tun. Dabei ist dieser Freiraum natürlich eigentlich ein wichtiger Bereich der kindlichen Entwicklung, denn hier findet ungehinderte Entwicklung und freies Lernen statt: Das Kind probiert sich aus, kann mit Ursache-Wirkung und Versuch-Irrtum lernen – Lernmöglichkeiten, die unter den Augen der Eltern nicht immer gegeben sind.

Als Eltern greifen wir aufgrund unseres persönlichen Wissens schnell ein: „Das passt nicht ineinander!“ oder aufgrund unserer Ängste: „Lass das lieber, sonst tust du dir noch weh!“ oder weil wir keine Zeit und/oder Ressourcen haben, um die Konsequenzen des kindlichen Handelns zu bewerkstelligen „Nein, sonst muss ich das nachher wieder aufräumen!“ – So verständlich dies aus der Erwachsenenperspektive ist, schränkt es kindliches Handeln und Erfahren ein.

Lernen und Entwicklung aber finden im Raum des Auseinandersetzens statt. Kinder lernen durch Erfahrungen und dem Be-Greifen der Welt. Es ist verständlich, dass wir unsere Kinder schützen wollen vor Gefahren, aber gleichzeitig müssen wir die vor der Gefahr schützen, dass wir ihnen den Zugang zur Welt nicht ermöglichen, indem wir sie einschränken und klein halten.

Kinder machen lassen

Gerade jetzt, wo der kindliche Aktionsradius noch mehr als ohnehin schon eingeschränkt ist und die meiste Zeit des Tages unter den Augen der Eltern agiert wird, sind Freiräume wichtig. Als Eltern können wir unseren Kindern zu Hause versuchen, diese Freiräume je nach Alter anzubieten: Indem wir sie in den Haushalt einbinden und sie beispielsweise bei der Essenszubereitung beteiligen und sie selber Entscheidungen treffen können oder das Essen verrühren. Im Alltag können wir uns bewusst zurücknehmen mit unserem Urteil und unseren Vorgaben und die Kinder dazu ermuntern, Dinge selber auszuprobieren und zu machen. Wir können Präsenz zeigen, anwesend sein und ansprechbar, aber den Kindern die Chance geben, selbst wirksam zu sein. Manchmal bedeutet das wirklich, dass dann gemeinsam am Abend mehr aufgeräumt werden muss, aber es gibt auf der anderen Seite mehr Freiräume und Zufriedenheit.

Rückzug

Und neben dem freien Tun und Entfalten ist es auch wichtig, dass Kinder ab Vorschulter auch Dinge im Verborgenen tun können, sich zurückziehen können. Vielleicht gibt es zu Hause nicht die räumlichen Möglichkeiten, um sich in ein eigenes Zimmer zurück zu ziehen, um den Gedanken nachzuhängen oder in Ruhe etwas zu bauen oder auch etwas zu tun, was in unseren erwachsenen Augen unsinnig ist. Vielleicht aber können wir dem Kind dann eine kleine Höhle tagsüber einrichten unter dem Esstisch, eine Rückzugsecke in einem Teil eines Zimmers hinter einem Vorhang oder einem Raumtrenner oder sogar kreativ einen Schrank mit Kissen und Decken ausstatten, in den sich das Kind mit einem Buch zurückziehen kann, wenn es das mag. Auch Kinder brauchen einen Wechsel von Anspannung und Entspannung und Möglichkeiten, dies selbst zu tun.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de