Monat: März 2020

Mein Kind macht nicht, was ich will

Manchmal ist es mit der Eigenständigkeit der Kinder ziemlich schwer: Auf der einen Seite sind sie manchmal nicht da selbständig, wo wir es gerade wünschen und auf der anderen Seite machen sie Dinge, die wir gerade nicht wollen. Manchmal stellt sich uns deswegen die Frage: Mache ich eigentlich alles falsch? “Funktioniert” unsere Erziehung nicht, weil das Kind gar nicht das tut, was es gerade tun soll?

Kinder haben einen eigenen Entwicklungsplan

Das Handeln von Kindern wird insbesondere durch ihren eigenen Entwicklungsplan geleitet: Neugierde ist der Motor ihrer Entwicklung und sie bewegen sich beständig voran in der Entwicklung – nach ihrer Agenda. Zwar gibt es bestimmte Zeitfenster, in der Kinder neue Fertigkeiten lernen, aber ob gerade die Feinmotorik, die Grobmotorik, die Sprache oder das Sozialverhalten im Vordergrund steht, kann bei verschiedenen Kindern gleichen Alters durchaus unterschiedlich sein. Auch das Temperament bestimmt dabei stark, wie sich das Verhalten des Kindes zeigt: Ist das Kind besonders extrovertiert, neugierig und geht freudig auf andere Personen und Erfahrungen zu? Hat es vielleicht auch wenig Gefahrenbewusstsein und zieht sich seltener zurück? Oder ist es genau anders und vorsichtig, wenig aufgeschlossen, fürchtet sich eher vor neuen Dingen und reagiert auf Gefahr schnell mit Rückzug?

Es kann deswegen durchaus sein, dass es in unseren Augen so erscheint, dass das Kind nicht das macht, was wir uns wünschen, weil es gerade in einem eigenen Entwicklungsthema steckt. Das Kind “trödelt” auf jedem Weg, weil es wahlweise klettert, balanciert, rückwärts läuft oder schleicht. Wir nehmen wahr: “Das Kind hört nicht auf mich, wenn ich sage, es soll sich beeilen!” In Wirklichkeit hat das Handeln des Kindes aber nichts mit unserer Ansage zu tun, sondern mit dem Entwicklungswunsch des Kindes. Würde es das eigene Verhalten reflektieren und benennen können, würde es sagen: “Ich baue gerade meine Motorik aus und übe balancieren und unterschiedliche Arten des Laufens!”

Kinder denken und fühlen anders

Und auch in Bezug auf die Gefühlswahrnehmung und -verarbeitung sieht es bei Kindern noch ganz anders aus als bei uns Erwachsenen. Kinder haben bis ins Schulalter hinein Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle. Gerade Kleinkinder sind noch besonders auf Co-Regulation angewiesen: Sie können noch nicht allein ihre Gefühle einordnen, verarbeiten und mit ihnen umgehen. Sie brauchen Erwachsene, die sie darin begleiten und den Gefühlen Worte geben, erklären, dass sie in Ordnung sind, die breite Palette an Gefühlen zum Leben dazu gehört, spiegeln, was sie wahrnehmen und ihnen schließlich gute Möglichkeiten vorstellen, wie sie diese Gefühle ausleben können: “Wenn du traurig bist, dann kann es sein, dass du weinen musst und es kann dir gut tun, von anderen in den Arm genommen zu werden.” oder “Wenn jemand dich ärgert, wirst du wütend und deine Wut kannst du in Worte fassen, statt zu hauen oder du kannst ganz stark aufstampfen.”

Ihre Gefühle drücken Kinder lange anders aus als wir Erwachsene. Sie sind auf dem Weg, zu lernen, mit ihnen umzugehen. Auf uns mag es manchmal so wirken, als würden sie einfach nicht auf uns hören, wenn wir sagen oder denken: “Du musst doch deswegen nicht so ausflippen!” Aber sie können wahrscheinlich noch nicht anders, als gerade jetzt genau so zu handeln. Es hat nichts damit zu tun, dass wir inkompetent wären als Eltern, wenn das Kind die eigenen Gefühle nicht so darstellt oder sich gefühlsmäßig so verhält, wie wir es wollen.

Hinter das Verhalten sehen

Es kann viele Gründe geben, warum Kinder sich nicht so verhalten, wie wir es uns wünschen. Das bedeutet nicht zwangsweise, dass etwas an unserem Erziehungsstil nicht richtig wäre oder wir als Eltern versagen, weil das Kind nicht auf das Wort folgt.

Wenn Kinder sich anders verhalten, als wir es wünschen und wir uns und unser Familienleben deswegen in Frage stellen, können wir unser Denken in drei Richtungen bewegen:

  • Was steckt hinter dem Verhalten des Kindes? Ist es gerade ein besonderer Entwicklungsschritt, ein Entwicklungsimpuls? Oder ist es “einfach” der Umstand, dass unsere Erwartungen zu hoch gehängt sind und wir vom Kind Dinge erwarten, die es noch gar nicht so leisten kann?
  • Fordert das Kind mit seinem Verhalten nicht einen Entwicklungsraum, aber einen Beziehungsraum ein? Braucht es gerade mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung, weil es vielleicht innere oder äußere Rahmenbedingungen gibt, die es verunsichern, weshalb es mehr Nähe, Schutz und Zuwendung braucht und fordert dies durch sein Verhalten ein?
  • Welche Glaubenssätze leiten uns gerade, zu denken, dass wir als Eltern versagen, wenn das Kind nicht folgt? Warum haben wir das Gefühl, schlecht zu sein, wenn gerade keine Harmonie herrscht zwischen unseren Erwartungen und denen des Kindes? Haben wir unrealistische Glaubenssätze in uns verankert, die uns den Alltag erschweren wie “Kinder müssen gehorchen” oder “Kinder müssen das machen, was Erwachsene sagen” oder auch “Kinder dürfen uns nicht auf der Nase herumtanzen und Nicht-Befolgen von Anordnungen ist Herumtanzen”.

Unrealistische Erwartungen an das kindliche Verhalten zu korrigieren ist einfacher, als eigene Glaubenssätze zu verändern. Wir können uns anlesen, was Kinder wann können und lernen und warum ihr Verhalten manchmal Ausdruck ihrer eigenen Agenda ist. Zu verstehen, dass das Verhalten des Kindes aber nicht zwangsweise uns Eltern in Frage stellt, ist viel schwerer, weil es oft tief in uns verwurzelt ist, dass Kinder folgen müssen und das Nicht-Folgen als Scheitern der eigenen Fähigkeiten wahrgenommen wird. Dabei steht beides nicht zwangsweise in einem Zusammenhang.

Dein Kind macht gerade nicht das, was du willst. Schau also hin, warum es das tut, was es tut: Was ist sein Antrieb, was könnte sein Ziel im Verhalten sein? Entwickelt es Fertigkeit, fordert es gerade Aufmerksamkeit und Beziehung ein? Welche der beiden Fragen die Ursache für das Verhalten auch sein mag, ist die Antwort auf das Problem des “falschen” Verhaltens: Beziehung. Wir müssen versuchen, die Handlungen zu verstehen und erkennen, dass das, was gerade passiert, kein Machtakt des Kindes ist, sondern ein Entwicklungs- oder Beziehungsthema. Es ist normal, dass Kinder manchmal anders handeln als wir es erwarten oder wünschen.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Wasser-(Farb-)Spiele für Kinder

Viele Eltern kennen das eine “Spielzeug”, das immer dann hilft, wenn nichts anderes gute Laune macht, alle Ideen ausgegangen sind, Kinder in den kühleren Monaten nicht ausreichend draußen spielen und matschen können: Wasser. Schüttspiele von Kanne zu Glas und wieder zurück, in andere Gläser und Gefäße machen Kindern oft große Freude.

Schüttspiele mit Wasser

Mit Schüttspielen lernen die Kinder etwas über Mengen: Passt der Inhalt der Kanne in dieses Glas? Im großen dünnen Glas sieht es nach mehr aus als im kleinen bauchigen Glas. Und sie fördern spielerisch ihre Motorik, indem sie versuchen, zielgenau umzuschütten und einzuschenken. Für Schüttspiele brauchen wir dabei gar keine besonderen Materialien, denn alle Zutaten finden wir meist direkt im Haushalt. Das können sein:

  • Gläser unterschiedlicher Größe
  • Schüsseln
  • eine kleine Kanne
  • Trichter
  • Siebe
  • Pipetten
  • ein Tablett als Unterlage
  • Lappen zum Aufwischen

Mit farbigem Wasser spielen

Erweitert kann das Schüttspiel werden, indem Farbe mit ins Spiel gebracht wird. Das kann zum Beispiel einfache Wasserfarbe sein, mit der Flüssigkeiten gefärbt werden. Ein schöner Effekt ist das “Entfärben” von Krepppapier: Dazu wird in mehrere Gläser Wasser gefüllt und ein kleines Stück einfarbiges Krepppapier dazu gegeben. Das Krepppapier verliert im Wasser Farbe, werden die Papierreste nach kurzer Zeit entnommen, bleibt das bunte Wasser im Glas zurück.

Mit den Grundfarben Geld, Rot, Blau können Kinder dann beliebig experimentieren und die Farben mischen: Was ergeben Rot und Gelb? Was ergeben Blau und Rot? Auch mit einer Spritze macht es Spaß, die Farben in kleinen Mengen zu vermischen.

Eine besonders schöne Variante des Farbmischens ist auch der Farbkreis mit wanderndem Wasser: Die Gläser mit den Grundfarben Gelb, Rot und Blau werden im Kreis im Wechsel mit einem leeren Glas aufgestellt. Die Gläser werden dann mit dünnen Streifen Küchenrolle verbunden. Nun wandert aus den jeweils mit den Grundfarben befüllten Gläsern das farbige Wasser über das Küchenpapier in die leeren Gläser und mischt sich dort.

Noch mehr Farbideen? Hier werden Tulpen mit buntem Wasser gefärbt. Hier werden bunte Schokolinsen für ein Farbexperiment genutzt.

Der Start in den Tag mit einem Kleinkind

Viele Fragen von Eltern kreisen um den Ausklang des Tages: Wann müssen Kinder ins Bett? “Müssen” Kinder überhaupt ins Bett oder können sie das selbst entscheiden? Wie gelingt ein guter Abschied vom Tag und wie entwickelt sich das Schlafverhalten von Kindern? Der Beginn des Tages ist oft weniger im Fokus von Elternfragen, obwohl auch er sich manchmal besonders schwierig gestaltet, besonders mit einem Kleinkind und als Beginn des Tages eigentlich auch einen besonderen Stellenwert hat.

Der Start in den Tag legt oft die Grundstimmung fest, wie wir uns fühlen und ob wir mit einem schlechten Gefühl und innerem Hadern den Tag beginnen, oder recht entspannt beginnen können. Eine negative Grundstimmung am Morgen kann sich in den weiteren Verlauf des Tages hineinziehen und sich auf den Arbeitsalltag auswirken und unser Wohlbefinden. Gelingt es uns, den Morgen bereits relativ stressfrei zu gestalten, fallen uns auch die weiteren Schritte des Tages leichter.

Abläufe für einen entspannten Start

Müde Kinder können nur schwer kooperieren – das gilt am Abend genauso wie am Morgen. Im Gegensatz zum Abend haben wir aber am Morgen die Möglichkeit, die Kinder anders einzubinden bzw. sie erst später dazu zu holen und ihnen einerseits mehr Zeit zum Ausschlafen zu geben und andererseits in Ruhe die Umgebung vorzubereiten, damit das Ausmaß der notwendigen Kooperation möglichst gering ist – gerade für diejenigen Kinder, die nicht besonders früh von allein aufstehen, ist das hilfreich.

Für einen entspannten Start in den Tag mit Kleinkind können wir daher folgende Punkte vorbereiten:

  • Vorbereitungen am Abend: Sofern das Kind dies zulässt und nicht morgens ganz anders denkt als am Tag zuvor, bietet es sich an, am Abend mit dem Kind die Kleidung für den nächsten Tag zurechtzulegen, so dass das Kind am Morgen einen kleinen Stapel an Kleidung hat von der Unterwäsche ganz oben bis zum letzten Kleidungsstück das angezogen werden muss ganz unten. Dies kann als Ritual eingeführt werden und auch wenn es vielleicht anfangs noch Abwandlungen gibt, ist es für viele Kinder mit der Zeit hilfreich und eine gute Orientierung, an die sie sich gewöhnen. Wollen sich Kinder allein anziehen und schaffen das, kann ein Bild hilfreich sein mit den Dingen, die sie zum vollständigen Anziehen aus dem Schrank nehmen müssen (Anzahl Socken, Unterhose,…)
  • Den Frühstückstisch am Abend vorbereiten: Auch das Decken des Frühstückstisches am Abend Spart am Morgen Zeit (besonders für die Eltern) und gibt dem Kind am Morgen Struktur, wenn bereits alle notwendigen Dinge auf dem Tisch stehen und keine Entscheidungen getroffen werden müssen: der Tisch ist gedeckt, einige Zutaten (beispielsweise Cerealien) stehen schon bereit, andere werden vorbereitet aus dem Kühlschrank schnell dazu gestellt (beispielsweise am Abend kleingeschnittenes Obst).
  • Klare Abläufe können auch visualisiert werden: Für viele Kinder ist es bis ins Schulalter hinein praktisch, eine Art “Fahrplan” für den Morgen zu haben. Darauf kann mit kleinen Bildern abgebildet sein, was nacheinander am Morgen passiert: Aufstehen, Anziehen, Frühstücken, Zähneputzen,… finden auf einem kleinen Poster ihren Platz und helfen, den Morgen zu strukturieren.
  • Vor dem Kind aufstehen: Eine viertel bis halbe Stunde vor dem Kind aufzustehen, hilft bei den Vorbereitungen und gibt noch Raum für eigene Morgenrituale. Nach dem Aufstehen kann fünf Minuten lang aufgeschrieben werden, an was heute alles gedacht werden muss oder wer welche Aufgaben in der Familie erledigt. Ein Tee kann aufgebrüht werden, der entspannt getrunken wird und es gibt Zeit, um tief durchzuatmen.
  • Klare Ansagen: Vielen Kindern hilft es, ganz klar zu kommunizieren: Statt “Es wäre schön, wenn du jetzt…” klar formulieren: “Bitte lege jetzt die Brotdose in den Rucksack.” Auch wiederholte Zeitangaben sind oft eine Unterstützung: “Wir gehen in 10 Minuten los.”, “Wir gehen in 5 Minuten los.” Mit der Zeit bekommt das Kind dann einen immer besseren Eindruck von den immer gleichen Zeitspannen. Hilfreich kann es auch sein, eine Sanduhr aufzustellen oder eine Eieruhr klingeln zu lassen: “Wenn die Uhr klingelt, musst Du in den Flur kommen, dann haben wir noch 10 Minuten zum Anziehen.” Mit solch eingebauten Puffern können auch mehr Zeit in Anspruch nehmende Reaktionen des Kindes abgefedert werden.

Insbesondere geht es am Morgen darum, dass wir den Start des Tages entstressen. Stress führt oft zu negativem Erziehungsverhalten: zu Streit, Schimpfen, Druck und manchmal zu physischen oder psychischen Grenzüberschreitung. All dies bereuen viele Eltern im Anschluss, sehen aber in der aktuellen Situation am Morgen unter Zeitdruck keine andere Möglichkeit und sowohl Eltern als auch Kinder starten dann gestresst und genervt in den Tag. Mit einigen Vorbereitungen können wir vielen Stressoren am Morgen vorbeugen und diesen negativen Erfahrungen am Tagesbeginn entgegenwirken.

Habt Ihr noch mehr Ideen oder Anregungen für einen stressfreien Tagesbeginn?
Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Foto: Katja Vogt

Die Challenge: Autonomie neu denken

Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass für die Phase, in der Kleinkinder danach streben selbst wirksam zu sein, immer mehr Dinge selbst zu tun und gleichzeitig aber noch Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle und dem Umgang mit ihren Gefühlen haben, die Bezeichnung “Trotzphase” nicht passend ist. Denn das, was Kinder tun, ist kein Starrsinn, kein Machtkampf.

Autonomie!?

Sie begehren nicht auf, um aufzubegehren, sondern um ihre Kompetenzen zu erweitern, um zu lernen und sich zu entwickeln, damit sie immer mehr in das Leben mit seinen Aufgaben hinein wachsen. Wir sprechen deswegen oft auch von der “Autonomiephase”, weil die Kinder lernen, Dinge allein zu bewerkstelligen und allein erledigen wollen. Und auch in Bezug auf ihre Gefühlswelt begeben sie sich auf den Weg, die Selbstregulation nach und nach auszuprobieren und von uns erlernte Muster anzuwenden.

Dennoch trifft auch das Wort “Autonomiephase” nicht ganz den Punkt dieser Zeit. Denn das Selbermachen und die Selbstwirksamkeit sind nicht auf eine Phase beschränkt, sondern in der gesamten Entwicklung eines Menschen wichtig, von Anfang an. Und auch der Begriff der Autonomie birgt manches Mal den Gedanken, Kinder wären dabei ausschließlich auf ihr eigenes Vorankommen fokussiert und wären vielleicht doch die egoistischen kleinen Tyrannen, als die sie von manchen Menschen bezeichnet werden. Es geht aber um mehr als nur Eigenständigkeit, es geht auch um Zugehörigkeit und die bedingungslose Schutzfunktion von Bindung.

Lernen, um in der Gesellschaft zurecht zu kommen

Das streben danach, eigene Fertigkeiten auszubauen ist sicherlich damit verwoben, selbständig zu werden und für sich sorgen zu können. Dabei sind und werden Kinder aber keine kleinen Eigenbrödler, sondern sind sowohl jetzt als auch zukünftig im gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Sie lernen nicht nur für sich, sondern auch für ihr Zusammenleben mit anderen: mit ihrer Familie, in ihrem weiteren sozialen Netz, in unserer Gesellschaft. Sie lernen, ihre Kooperationsfähigkeiten weiter auszubauen und eigene Aufgaben zu übernehmen, um in ihrem sozialen Umfeld Teil zu haben und zu unterstützen.

Wir sehen es jeden Tag an unseren Kindern, dass sie helfen und unterstützen wollen, auch wenn wir Erwachsene diese Hilfe nicht als solche anerkennen, weil sie noch in den Kinderschuhen steckt: Das Kind, das beim Zubereiten des Essens helfen möchte und etwas klein schneiden oder umrühren möchte. Das Kind, das die Cornflakestüte in die Aufbewahrungstüte umkippen möchte und dabei die Hälfte daneben gehen lässt, weil die Auge-Hand-Koordination und Feinmotorik doch noch nicht ausreichend ausgebildet ist. Es gibt jeden Tag viele Tätigkeiten unserer Kinder, die uns zeigen, dass sie eigentlich auf dem Weg sind, Unterstützung zu lernen.

Konflikte im Miteinander: Auch das ist Lernen

In einer Gesellschaft sind unsere Kinder einerseits mit ihren Handlungen und Tätigkeiten Teil einer Gruppe, aber auch mit ihrem Wesen. Auch das Zugehörigkeitsgefühl bildet sich nach und nach aus und es ist für Kinder wichtig, Teil einer Gruppe zu sein und sich als solchen Teil auch zu empfinden. Und im Gegenteil: Der Ausschluss ist für Kinder nicht nur emotional schmerzhaft, sondern wird teilweise sogar als richtiges Schmerzgefühl erlebt und lässt Kinder weinen. Auch hier lernen also Kinder im sozialen Miteinander: Was ist in einer Gruppe okay, was nicht? Wie bewege ich mich in einer Gruppe, welche Werte werden transportiert? Und auch: Was ist in unterschiedlichen Gruppen verschieden? Warum ist es für andere Kinder in Ordnung, wenn ich sie “Pupsnase” nenne, aber Erwachsene reagieren anders darauf? Kleinkinder lernen auch soziales Miteinander, um sich in einer Gruppe zurecht zu finden, um Teil davon zu sein.

Der amerikanische Autor Alfie Kohn* schreibt “Manchmal wird die Annahme, Kinder wollten uns testen, sogar als Begründung angeführt, sie zu bestrafen. Mein Verdacht ist jedoch, dass Kinder durch ihr Fehlverhalten vielleicht etwas völlig anderes testen wollen – nämlich die Bedingungslosigkeit unserer Liebe. Vielleicht verhalten sie sich auf unannehmbare Weise, um herauszufinden, ob wir sie dann nicht mehr annehmen.” Beziehen wir dies auf die manchmal schwierigen Situationen mit Kleinkindern, sehen wir: Kinder brauchen das Gefühl, dazu zu gehören. Gerade kleine Kinder sind noch auf den Schutz, den das Bindungssystem verspricht, angewiesen und wollen uns nicht erzürnen oder verärgern, sondern Teil sein und sich sicher sein, dass sie geschützt und versorgt werden.

Zeigen sie ein Verhalten, das uns denken lässt, sie würden uns provozieren, können wir auch hier überlegen: Was steckt eigentlich dahinter? Welches Beziehungsthema hat mein Kind gerade? Die Antwort auf eine scheinbare Provokation ist deswegen die Bestätigung, dass das Kind auch weiterhin geliebt wird. Natürlich können wir dennoch signalisieren, dass dieses Verhalten für das Zusammensein nicht gut ist.

Ein Beispiel hierfür: Scheinbar wahllos wirft das Kind die Sachen aus dem Regal auf den Boden. Wir fragen uns: Was soll daran sinnvoll sein? Hier lernt das Kind keine Fertigkeiten. Vielleicht aber ist es auf der Suche nach einem Beziehungsangebot: Vielleicht fühlt es sich nicht gesehen, nicht verstanden, ist ihm langweilig. Wir könnten klassischerweise reagieren mit einem “Lass das, hör sofort auf.” Das Kind hört vielleicht auf, weil es Angst hat. Das ursprüngliche Thema des Kindes wird allerdings nicht beachtet, mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es ein ähnliches oder anderes, für uns störendes Verhalten bald wieder zeigen. Was wir alternativ sagen können: “Jetzt hast du alle Sachen runtergeworfen. Mich ärgert das, weil die Sachen wieder aufgeräumt werden müssen und ich habe Angst, dass etwas kaputt geht, wenn du die Sachen runter wirfst. Warum hast du das gemacht? Bist du sauer?” Wir erklären, wie es uns geht, warum die Situation für uns nicht in Ordnung ist und was das für uns bedeutet und gleichzeitig zeigen wir dem Kind mit unserer Frage, dass es wichtig ist und wir uns um die Hintergründe des Kindes kümmern. Wir können vermitteln: Das, was gerade gemacht wurde, ist nicht okay, aber das ändert nichts daran, dass ich dich lieb habe. Kinder lernen nicht daraus “richtiges” Verhalten in einer Gesellschaft zu zeigen, weil sie sonst Liebesentzug erwarten, sondern sie lernen das passende soziale Verhalten durch Vorbildverhalten von uns Erwachsenen und dem Bedürfnis nach Teilhabe und Kooperation, das aus ihnen selbst schon entspringt.

Probier es aus: Sieh die Beweggründe des Handelns

Wir können unseren Alltag mit Kleinkindern erleichtern, wenn wir die wahren Beweggründe ihres Handelns erkunden und in unseren Handlungen berücksichtigen. Wenn das Kind also etwas tut, das uns stört, das uns verärgert, das uns mehr Arbeit bringt, können wir uns fragen: Macht es das gerade, um etwas zu lernen? Möchte es gerade eine Fertigkeit ausbauen, lernt es gerade fein- oder grobmotorisch? Lernt es gerade Sozialverhalten und gleicht sich mit anderen ab? Und wenn wir keine Antwort finden, können wir uns noch fragen: Steckt hinter dem Verhalten des Kindes eigentlich eine Beziehungsfrage, eine Beziehungsaufforderung, möchte das Kind gesehen werden und braucht es gerade eine Versicherung, das wir es lieben und weiterhin schützen und versorgen?

Es macht den Alltag leichter, wenn wir von unseren Kindern nichts Böses denken, wenn wir nicht denken, dass sie uns ärgern/manipulieren/herausfordern wollen. Sondern wenn wir denken, dass die Menschen sind, die gerade lernen, sich in die Welt hinein bewegen und all das, was sie tun, deswegen machen, weil sie dazugehören wollen. Und dieser Gedanke kann ein wunderbar hilfreicher Leitstern sein für schwierige und weniger schwierige Tage.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Weiterführende Literatur**:
*Kohn, Alfie (2015): Liebe und Eigenständigkeit. Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung. Freiburg: Arbor.
Mierau, Susanne (2017): Ich! Will! Aber! Nicht! Die Trotzphase verstehen und gelassen meistern. München: Kösel.
Mierau, Susanne (2017): Geborgene Kindheit. Kinder vertrauensvoll und entspannt begleiten. München: Kösel.

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