Ich bin ich – Das Kind in seinem Wesen erkennen

Lange Zeit herrschte der Gedanke vor, Kinder würden als unbeschriebene Blätter zu uns kommen. Als Gefäße, die wir füllen könnten. Als Gras, an dem wir ziehen könnten. Diese Gedanken sind tief in uns verwurzelt und tauchen sicherlich in den meisten Gedanken von Eltern immer mal wieder auf: „Wenn ich nur fest genug insistiere, dann wird das Kind schon sportlich sein/nicht so zurückgezogen/gut in Mathe werden/…“ Wir denken so oft, wir könnten unsere Kinder bewegen, biegen, schieben. Und in einem gewissen Maß geht das sicherlich auch. Natürlich formen wir Eltern mit unserem Verhalten das Denken des Kindes über die Umwelt und über sich. Wir beeinflussen die Emotionalität durch unser Handeln. Aber letztlich ist es unsere Aufgabe, sie nicht zu schieben oder zu biegen, sondern zu erkennen, wer sie sind.

Unsere Kinder kommen mit ihrem eigenen Temperament zu uns. Ich habe viele Babyskurse geleitet und darin lagen viele Kinder. Und auch wenn sich Babys oft ähneln in ihren kleinen Babygesichtern, wenn sie relativ nah zeitlich neue, gleiche Fertigkeiten erwerben, sind sie doch auch unterschiedlich: Da gab es in jedem Kurs ein Baby, das lieber dort lag und die anderen beobachtet hat. Und eines, das unglaublich aktiv war, die Gesichter und Gesten verfolgte und einfach sehr neugierig war. Es gab Kinder, die ganz schnell in die Interaktion mit anderen Babys gingen. Solche, die Berührungen und Massagen liebten und solche, die das weniger gern hatten. Auch wenn ich auf meine eigenen Kinder blicke, kann ich mit dem Abstand der Jahre sagen: Jedes von ihnen ist anders.

Manche Kinder sind lauter, andere leiser. Manche introvertierter, andere extrovertierter. Einige rennen freudig auf andere Menschen zu und sind immer offen für ein kleines Gespräch, andere reden nur mit sehr vertrauten Menschen. – Beides ist möglich und bedeutet nicht, dass etwas mit der Bindung nicht stimmen würde. Die amerikanische Professorin für Neurowissenschaften Prof. Dr. Lise Elliot beschreibt*: „Das Temperament [meint] speziell jene Eigenschaften, die angeboren sind und von Geburt an, wenn nicht sogar früher, einen Menschen begleiten. Das Temperament gilt also als genetische Eigenschaft, und obwohl es sich mit dem Kind weiterentwickelt – ebenso wie die rein körperlichen Merkmale sich verändern -, bleibt es seinem Wesen nach bei den meisten Menschen das ganze Leben lang stabil.“

Anstatt unsere Kinder zu etwas machen zu wollen, was sie nicht sind, sollten wir sie erkennen in dem, was sie sind. Wer sie sind. Und sie auf diesem Weg begleiten. So kommt es, dass wir, auch wenn wir mehrere Kinder in einer Familie ganz gleich behandeln wollen, doch auch Unterschiede machen und diese Unterschiede normal und richtig sind, weil die Kinder, mit denen wir umgehen, eben auch unterschiedlich sind. Vielleicht mag eines mehr, wenn es gekuschelt wird. Das andere holt sich Nähe über das Toben. – Aber keines von beiden ist deswegen näher oder weiter weg oder erleidet einen Mangel, wenn wir die Art und das Wesen des Kindes berücksichtigen.

Mit der Zeit ändern sich Vorlieben eines Kindes auch: Heute war Rot die Lieblingsfarbe, im nächsten Monat ist es Blau. Auch dafür sollten wir als Eltern offen sein und die Entwicklung unserer Kinder begleiten. Denn sie ent-wickeln sich, gehen ihren Weg und zeigen und finden mehr und mehr, wer sie sind. Und auf diesem Weg begleiten wir sie, damit sie eines Tages sicher wissen, wer sie sind und was sie wollen. Und das ist doch eigentlich ein ganz wunderbares Ziel von Eltern.

Eure

Zur Autorin:
Susanne Mierau ist Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik) und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 im Bereich bedürfnisorientierte Elternberatung selbständig machte. Ihr 2012 gegründetes Blog geborgen-wachsen.de und ihre Social Media Kanäle sind wichtige und viel genutzte freie Informationsportale für bedürfnisorientierte Elternschaft und kindliche Entwicklung. Susanne Mierau gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über kindliche Entwicklung, Elternschaft und Familienrollen.

Foto: Ronja Jung für geborgen-wachsen.de

Weiterführende Literatur:
*Elliot, Lise (2003): Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren. – Berlin: Berlin Verlag.
Mierau, Susanne (2016): Geborgen wachsen: Wie Kinder glücklich groß werden. – München: Kösel.
Mierau, Susanne (2017): Ich! Will! Aber! Nicht! – Die Trotzphase verstehen und gelassen meistern. München: GU.

1 Kommentare

  1. Liebe Susanne, das hast du so schön geschrieben. Man stellt sich ja doch immer wieder fragen wie, ist mein Sohn zu weinerlich, braucht er mehr Führung … Aber auch wir sind zu dem Schluss gekommen, dass er einfach perfekt ist, wie er eben ist. Auch werden wir ihn nicht in einen Skikurs drängen, nur weil es hier im Voralpenland üblich ist, dass Kinder Skifahren lernen. Und wenn es ihn dann doch irgendwann von sich aus reizt, sind wir die letzten, die es ihm verbieten. Manchmal meint man, es gäbe Dinge, die gehören sich eben so. Doch letztlich gehört sich nur das, was den eigenen Kindern wirklich gut tut, so 🙂

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