Tag: 28. Januar 2019

Die Flügel unserer großen Kinder – Moralentwicklung & -unterstützung in der Kindheit

„Kleine Kinder, kleine Sorgen. Große Kinder, große Sorgen.“ So ganz stimmt diese Aussage nicht, denn auch schon die kleinsten Kinder können große Sorgen mitbringen und im Alltag mit den großen Kindern gibt es immer wieder auch kleinere Probleme. „Kleine Kinder, kleine Flügel. Große Kinder, große Flügel“ passt eher, wenn wir auf die Autonomiebestrebungen unserer Kinder sehen und auf die Herausforderungen, die das für uns Eltern mit sich bringt. Große Kinder fordern die Selbständigkeit in dieser Welt auf eine besondere Weise heraus. Dies ist nicht nur zum Erlernen von offensichtlichen Kompetenzen wichtig, sondern auch für die Entwicklung des moralischen Denkens und Handelns. 

Die Begleitung der ersten Jahre

Kinder bindungs- und bedürfnisorientiert wachsen zu lassen bedeutet, dass wir ihre Signale ernst nehmen und darauf reagieren. Das Baby, das weint, nehmen wir hoch und fragen uns, wie wir die Not beenden können. Auch wenn das Baby von sich aus schon viele Fähigkeiten mitbringt, um sich selbst zu beruhigen, ist es dennoch noch sehr auf uns angewiesen. Wir suchen Lösungen für unser Kind. Wenn es größer wird, lernen wir zunehmend damit umzugehen, dass es Lösungen selber finden möchte – und muss. Denn es beginnt, sich selbständig in der Welt zurechtfinden zu wollen. Das ist, was wir als „Trotzphase“ oder Autonomiephase bezeichnen: Das Kind begehrt, einen eigenen Weg zu gehen, eigene Lösungen zu finden, eigene Ideen einzubringen. Es macht sich eine Vorstellung von der Welt und wird wütend, wenn diese Vorstellungen behindert werden oder es an natürliche Grenzen stößt. Noch kann es damit nicht umgehen wie ein erwachsener Mensch und wütet und tobt. Noch braucht es uns, um in dieser Wut begleitet zu werden und andere Wege zu finden, um damit umzugehen. Bereits jetzt entwickelt das Kind moralische Vorstellungen davon, welche Handlungen in welchen Situationen angemessen sind und lernt insbesondere durch unser Vorbild.

Wege auszuhandeln ist nicht immer einfach

Unsere Kinder werden größer und lernen mehr und mehr, sich in der Welt zurechtzufinden und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Sie stellen Fragen nach den Zusammenhängen, nach dem Ursprung von Dingen und sich selbst. Sie wollen verstehen, in welcher Welt sie sich befinden. Als Eltern begleiten wir sie auf diesem Weg, hören ihre Fragen, antworten. Und nicht nur dies: Wenn Kinder es gewohnt sind, dass sie auf Augenhöhe in ihren Bedürfnissen beachtet werden, werden die Fragen und Routinen des Alltags zur Diskussion gestellt. Ein „Wir machen es so!“ wird zu einem „Warum machen wir es so und nicht anders?“ oder zu einem „Ich will es aber anders ausprobieren.“ Das ist nicht immer einfach. Oft ist es sogar ganz schön schwer, wenn Kinder die Handlungen zur Diskussion stellen mit eigenen Argumenten. Und wir als Eltern merken vielleicht an der ein oder anderen Stelle: Eigentlich hat dieses Kind Recht. Wir müssen verhandeln, Wege gemeinsam finden, im Gespräch sein und zusammen abwägen. Noch lange sind wir Eltern Entscheidungsträger/innen, aber das entbehrt nicht der Aufgabe, den Prozess der Entscheidungsfindung gemeinsam zu gehen.

Werte vorleben und verhandeln

In diesem Prozess bringen wir Eltern unsere eigenen Werte mit und Kinder sind auf dem Weg, Werte auszubilden, und befinden sich noch lange Zeit auf dem Weg der Moralentwicklung. „Moral“ erscheint als so großes, umfassendes Wort. Es bezeichnet, wie wir Konflikte lösen, wie wir sozial handeln (und auch, wie wir mit Ressourcen umgehen, politische und ökologische Fragestellungen lösen) und gerade dies ist in Familien und generell Gemeinschaft wichtig. Es ist eine Grundlage des Zusammenlebens.

„Wenn das Wohlergehen der Menschen vom Verhalten anderer Menschen beeinflusst wird, betreten wir den Bereich der Moral.“

Fritz Oder/Wolfgang Althof „Moralische Selbstbestimmung“

Kinder haben ein Informationsrecht – für ihre Entwicklung

Damit sich unsere Kinder in dieser Welt zurechtfinden, brauchen sie unsere Begleitung und auch unsere Ehrlichkeit. Sie müssen angenommen werden mit ihren Fragen und auch vorbereitet werden auf die Welt, in der sie leben. Das setzt voraus, dass wir sie an der Welt teilhaben lassen. Kinder sind neugierig auf die Welt, wollen damit interagieren und eigene Wege gehen. In einem altersangemessenem Rahmen müssen sie sich auseinandersetzen können mit dem, was geschieht. Genau so, wie wir früher in dem begrenzten Rahmen des Wohnzimmers entdecken ließen, müssen wir ihnen später die Möglichkeit geben, gemäß ihrem größeren Radius die Welt zu erkunden. Sie dürfen und müssen erfahren, in welcher Welt sie sich bewegen, um sinnvoll damit umzugehen. Sie können Kindernachrichten hören, Kinderzeitungen lesen, wir können und sollten mit ihnen über das Weltgeschehen sprechen. Denn das ist die Umgebung, in die sie hinein wachsen und mit der sie interagieren werden. Moralentwicklung findet nicht in einem begrenzten Zeitraum statt, sondern ist ein Prozess, der auch die Möglichkeit der Stimulation benötigt, dem aktiven Auseinandersetzen mit „Problemsituationen“ und den darauf aufbauenden Lösungsmöglichkeiten. Gemeinsam kann über Nachrichten gesprochen werden und über politische Entwicklungen. Es braucht eine innere Motivation und eine persönliche Relevanz, um wirklich moralische Probleme zu überdenken. Deswegen ist es richtig und gut, wenn Kinder auch in das aktuelle Weltgeschehen eingebunden werden und die Auswirkungen auf ihr persönliches Leben besprochen werden. Sie davon auszuschließen, behindert ihre Entwicklung und letztlich auch die Entwicklung ihrer Zukunft.

Auch gerechte Schulgemeinschaften und demokratische Schulen sind ein Beispiel dafür, wie Kinder in der Moralentwicklung unterstützt werden können. Fritz Oser, Professor für Pädagogik und Pädagogische Psychologie, und Dr. Wolfgang Althof (2001, S.406) beschreiben in Bezug darauf: „Im allgemeinen wird viel zu wenig Vertrauen auf die kindliche praktische ‚Vernunft‘ gesetzt. Das Wort ist natürlich zu hoch gegriffen. Wir meinen damit nicht die absolute Selbstbestimmung, Postkonventionalität und Universalität des Urteilens. Wir meinen vielmehr, daß Kinder und Jugendliche auf das bessere Argument zu hören fähig sind; sie sind auch fähig, ihren Willen von naturwüchsigen Impulsen abzulösen und das schlechthin Gute in der diskursiven Situation zu erahnen. Die Autonomie ihrer Moral kann sich aber nur entwickeln, sofern sie lernen, ihre Sittlichkeit mit derjenigen der anderen zu koordinieren.“

Auf Augenhöhe bedeutet auch, dem Blick standzuhalten

Kindern auf Augenhöhe zu begegnen bedeutet auch, nicht verschämt auf den Boden zu blicken unter ihrem Blick. Es bedeutet auch, einem fragenden Blick standhalten zu können und ehrlich zu sein. Die Welt ist nicht einfach und die Zukunft unserer Kinder vielleicht auch nicht. Aber es ist ihnen keine Hilfe, wenn wir ihnen die Chance nehmen, sich darauf vorzubereiten und ihren individuellen Weg zu gehen. Kinder brauchen Partizipation an wichtigen Entscheidungen, sie haben eine Stimme, die sie benutzen dürfen und sollen, um ihre Zukunft zu formen.

Susanne Mierau ist u.a. Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Kleinkindpädagogik)Familienbegleiterin und Mutter von 3 Kindern. 2012 hat sie „Geborgen Wachsen“ ins Leben gerufen, das seither zu einem der größten deutschsprachigen Magazine über bindungsorientierte Elternschaft gewachsen ist. Sie ist Autorin diverser Elternratgeber, spricht auf Konferenzen und Tagungen, arbeitet in der Elternberatung und bildet Fachpersonal in Hinblick auf bindungsorientierte Elternberatung mit verschiedenen Schwerpunkten weiter.