Freilernen und Homeschooling – Über die Unterschiede des Lernens ohne Schule

Freies Lernen, Freilernen, was hat es damit auf sich? Homeschooling? Was ist das eigentlich? Bis vor ein paar Jahren kannte ich nur Homeschooling als Schlagwort, und da ging ich mit den vermutlich gängigen Vorurteilen ran.

Unser persönlicher Weg des Lernens ohne Schule

Mein Mann und ich hatten „normale“ Schulkarrieren auf der Regelschule mit den üblichen Ups and Downs. Ich habe mit recht wenig Aufwand und recht ordentlichen Noten Gymnasium und Abitur absolviert. Zwar fand ich manches irgendwie doof oder unfair, habe das aber entweder als „ist halt so“ hingenommen oder eben in vermeintlich pubertärer Revoluzzerlaune dagegen protestiert.

Dann bekamen wir irgendwann Kinder, und über unsere Kinder hat sich unsere Wahrnehmung und unser Blick auf viele Dinge verändert – oder vielleicht auch wieder dahin entwickelt und geschärft, wie er ursprünglich mal war.

Unser Bauchgefühl ließ uns mit unseren Kindern so umgehen, was wir heute bedürfnisorientiert nennen oder grob unter Attachment Parenting („AP“) zusammenfassen. Auch und erst recht jenseits des ersten Lebensjahres. Wir stellen immer wieder fest, dass das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht, und dass unsere Kinder ihre Entwicklungsschritte dann machen, wenn sie dazu bereit sind – manche früher, manche später. Oder hat schon jemand einem gesunden Kind Laufen beigebracht? Oder Sprechen? Oder Klettern, Springen, Rutschen? Die ganz Kleinen betreffend, ist es (zumindest in AP-Kreisen) ja schon common sense: die Kinder WOLLEN lernen, sie wollen mitmachen, nachmachen. Sie begeben sich in ihre persönliche „Kribbelzone“ und üben das, was für sie in ihrer Entwicklung gerade dran ist. Da lernt das Eine vielleicht zuerst laufen, während das Nächste während des Krabbelns oder Hochziehens die ersten gut verständlichen Zwei- bis Drei-Wort-Sätze erprobt. Und da gilt natürlich für die Kinder auch: alles gleichzeitig neu lernen und perfektionieren geht nicht. Warum soll sich all das ändern, wenn ein Kind das Schulalter (oder teilweise schon Kindergarten- oder Krippenalter ;-)) erreicht?

Gerade erleben wir genau dies mit dem Lesen lernen bei unserer ältesten Tochter. War das vor einem Jahr noch überhaupt kein Thema für sie, wollte sie es vor einigen Monaten dann unbedingt. Ob das durch die Freundin, die schon lesen kann, bedingt war oder durch eine Bemerkung der Großeltern oder irgendwas anderes – die Motivation war offensichtlich extrinsisch oder entsprach nicht ihrem Entwicklungsstand. Wir setzten uns hin mit ihr zum „Üben“ auf ihren Wunsch, aber es ging alles doch seeehr zäh. Es war spürbar, dass sie sich alle Mühe gab, aber es forderte eben auch diese Mühe: Erklärung von uns, Merken von ihr, Bitte um nochmalige Erklärung, weil nicht als logisch empfunden – da war nichts Leichtes, Eingängiges. Jetzt, nach einiger Pause, ist es in den letzten Wochen so: sie liest unterwegs immer wieder Dinge vor, setzt Worte oder Wortteile selbstverständlich zusammen. Wohl auf dem Weg dorthin, was freilernende Kinder immer wieder sagen: „und auf einmal konnte ich lesen.“. Ähnlich war es mit dem Rechnen: das kam so ganz selbstverständlich, sie rechnet meist weniger, mehr leitet sie sich die Dinge logisch her, und das weit über den Stand ihres Alters hinaus, wenn man in althergebrachten schulischen Einheiten denkt. Das tun wir nicht, nicht mehr, aber es ist manchmal eine Beruhigung für Außenstehende, die sich Gedanken machen über ihre noch nicht so ausgeprägten Lesekünste 😉 Für mich sind diese Momente des „auf einmal…“ und die Herangehensweisen der „natural learning natives“ an Dinge, losgelöst vom „Fächer-Gedanken“ immer wieder auf eine Weise magisch. Ähnlich schildert es Dr. Alan Thomas, Psychologe und Autor aus London, der das informelle Lernen erforscht – um gleichzeitig mit ähnlicher Faszination festzustellen, dass es sich eigentlich mit herkömmlichen Methoden gar nicht fassen lässt.

Jeder hat sein Tempo und Talente

Und dann gibt es natürlich auch Interessen und Begabungen; Besonderheiten des Kindes spielen eine Rolle für das ganz eigene Tempo. Die Hirnforschung weiß heute, dass das Gehirn lebenslang trainiert werden und dazulernen kann. Wie schön: wenn mir Logarithmen mit 15 noch so gar nicht in meinen Kopf wollen, kann ich sie auch mit 61 problemlos noch lernen, wenn ich das möchte und ich mich dafür begeistere. Denn die Begeisterung ist das Schmiermittel, der Motor für unser Lernen. So schreibt z.B. der Pädagoge und Autor John Holt, einer der Begründer der Homeschooling-Bewegung in den USA, der die als Unschooling bekannt gewordene Richtung etablierte: „Warum sollten Aktivitäten wie Musizieren, Sport treiben, Malen, Poesie verfassen, Tanzen, Bühnenspiel oder Lesen die Disziplin und das Denkvermögen weniger fördern als die erzwungene Teilnahme an Kursen und Hausarbeiten, für die Kinder wenig Neigung oder gar Freude aufbringen und auch gar keine Verwendung haben?“

Mir gefällt dazu gut das Bild von der Tierschule: alle Tiere erhalten Unterricht im Rennen, Klettern, Fliegen und Schwimmen – Ente, Adler, Hase und Eichhörnchen erreichen in den einzelnen Fächern jedoch höchst unterschiedliche Ergebnisse 😉

Homeschooling – Unterricht zu Hause

Homeschooler unterrichten ihre Kinder zuhause. Wie eng sie dabei irgendeinem Curriculum, Vorgaben oder auch beispielsweise den Lernunterlagen und Ablaufplänen einer Fernschule folgen, ist so unterschiedlich wie die Familien selbst. Teilweise mag es auch damit zusammenhängen, aus welchen Gründen Menschen homeschoolen. Auch kann sehr individuell auf das Kind (bzw. die Kinder) und sein Tempo sowie evtl. seine Interessen eingegangen werden. Charakterisierend für das Homeschooling ist auf jeden Fall, dass (ähnlich wie in der klassischen Schule) tendenziell der Erwachsene bestimmt, was gelernt wird. Er trifft die Entscheidung über das Angebot, er „bringt etwas bei“, er ist der Lehrende, eher auf Stufe des „Mehr-Wissenden“, kennt sich selbst aus mit dem Thema, das er „unterrichtet“. Selbst haben wir keine Erfahrung mit Homeschooling in dem Sinne, allerdings haben wir auf unseren Reisen und über unser mittlerweile recht umfangreiches Netzwerk auch Homeschooler kennengelernt. Allerdings keine, die meinen Vorurteilen über sektenartige religiös-fundamentalistische Menschen und Gruppierungen entsprachen – das mag allerdings sicherlich auch jeweils mit unseren eigenen Aufenthaltsorten und Sichtweisen zu tun haben.

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Freilernen – das Kind bestimmt

Beim Freilernen (und beim freien/informellen Lernen generell) geht das Lernen vom Kind aus. Wenn wir es zulassen, entwickelt sich dieses Lernen ganz automatisch – oder vielmehr ist es etwas, das jedes Kind von Anfang an macht, und die Kunst besteht eher darin, es ihm nicht abzugewöhnen. Denn für die Kleinen ist es noch klar: Lernen ist Spielen, spielen ist lernen. Sie können die Schritte in ihrem Tempo gehen; behütet, wenn es benötigt wird, selbständig werden lassen – Wurzeln geben, damit Flügel wachsen können. Da lernt das kleine Kind Dinge, wenn sie für es „dran“ sind – ob mit, ob ohne Kindergarten. Das größere Kind kann schon Tätigkeiten, mit denen es sich beschäftigen will, einfordern. Ob es Töpfern lernen möchte, Reiten oder Quantenphysik – ich muss nicht alles selbst können. Ich kann mit meinem Kind zusammen lernen, wir können zusammen schauen, wie es sich das entsprechende Wissen selbst aneignen kann oder wo es jemanden gibt, von dem es lernen kann. Ich darf mein Kind – und mich – ernst nehmen in seinen Fähigkeiten und seiner Art, darf schauen, was es braucht.

Die Grenzen sind teilweise sicherlich fließend. In Großbritannien beispielsweise fasst man beides, homeschooling und unschooling, unter „home education“, also einfach „Bildung zuhause“ allgemein zusammen. Auch passiert es häufiger, dass Familien mit einer Art Lehrplan oder Curriculum anfangen und mit der Zeit übergehen in ein eher informelles Lernen. Lernen ist nicht festgelegt – zeitlich, örtlich oder altersmäßig.

In Großbritannien kam der Ansatz von den Aristokraten, die die Bildung nicht aus der Hand geben wollten. Elitär ist der Ansatz schon lange nicht mehr, aber der Blick auf die Bildung ist geblieben. Elitär sind – wie hierzulande auch – eher Privatschulen, die man sich teilweise erstmal leisten können muss, einen Platz bekommen, eine in erreichbarer Nähe haben oder eröffnen etc.

Ein Leben ohne Schulabschluss?

Und ohne Abschluss geht es ja nicht; man will ja auch nicht, dass die lieben Kleinen in der Gosse landen und hat gute Noten als Voraussetzung für „gute“ Ausbildungs- oder Studienplätze und „gute“ Jobs im Kopf. Das sind häufige Angstspiralen oder vorgedachte Wege in Elternköpfen, die ja nur wollen, dass es ihren Kindern gut geht und sie ein akzeptierter Teil unserer Gesellschaft werden. Ich glaube, wir vergessen dabei oft, dass die Art von Jobs und Arbeitswelt, die wir oder gar unsere Eltern kennen, für unsere Kinder und Enkel gar nicht mehr existent sein wird. Entscheidender als das, was ich aktuell weiß, wird eher sein: wie kann ich mir Wissen selbständig aneignen? Wissen, das vielleicht heute noch gar nicht existiert? (wer mag, schaut mal nach „DID YOU KNOW?“ auf youtube)

Auch sind oft viele alte Ängste oder Glaubenssätze vorhanden. Schule oder Kindergarten muss man doch besuchen. Muss man? Da mussten wir alle durch, das (un-)“gute“ alte „uns hat es ja auch nicht geschadet“ (oder doch?), das Leben ist kein Ponyhof, man kann nicht nur machen, was einem Spaß macht, später im Beruf muss er/sie doch auch… beliebig fortsetzbar. Manchmal ist da auch das unbewusste Gefühl, das man sich vielleicht manches hätte sparen können, vielleicht gar erlittene eigene schlechte Schulerfahrungen. Oder einfach Unwissenheit, wie es anders gehen kann. Der Gegenwind kann jedenfalls gewaltig sein.

Und natürlich sind auch die Einrichtungen sehr unterschiedlich. Es gibt wunderbare und weniger wunderbare..

Prüfungswissen kann man sich sehr schnell aneignen, das zeigen Freilerner in aller Welt immer wieder. Wer einen Abschluss machen möchte, erwirbt das abgefragte Wissen schnell. Abgesehen davon, dass bereits heute oft auch ohne Abschluss studiert werden kann – und bereits heute viele Berufswege abseits herkömmlicher Pfade verlaufen.

Der deutsche Begriff „Freilernen“ wird häufig synonym mit dem angloamerikanischen Unschooling (in Großbritannien teilweise auch als „autonomous learning“ bezeichnet – Lernen ohne Schule und ohne Lehrplan/Vom Kinde aus) gebraucht. Mein Verständnis vom „Freilernen“ geht darüber hinaus, ich empfinde den Begriff trotzdem als zutreffend.

Freilernen ist eine Haltung

Für mich ist es das Gleiche wie mit Attachment Parenting: Freilernen ist eine Haltung. So wie sich Bedürfnisorientierung nicht in „ich trage x Stunden am Tag mein Baby und habe y Monate gestillt“ manifestieren lässt, so ist es auch beim freien Lernen. Und was gerade bedürfnisorientiert ist, ist auch situationsabhängig und darf sich verändern. Das kann beim gleichen Kind in unterschiedlichem Alter anders aussehen, beim Bruder anders als bei der Schwester, die Familie als Gesamtkonstrukt im Blick habend. Die Basis ist Vertrauen, die Sicht auf’s Kind auf Augenhöhe.

Wenn jemand über sagen wir mal 18 oder 25 Jahre alt ist, hat er ja auch wiederum die Wahl: welches Arbeiten oder Leben entspricht ihm? Praktisch, handwerklich oder akademisch? Ein Nerd? Großraumbüro oder Home Office? Angestellt oder selbständig? Vollzeit oder Teilzeit? Warum gestehen wir das den jungen Menschen zwischen 6 und 16 oft nicht zu? Ich mache generell im Umgang mit Kindern die Erfahrung, dass es oft eine gute Idee ist, sich zu fragen „wie würde ich mich fühlen, wenn so mit mir umgegangen würde?“

Unser persönlicher Weg war so, dass unsere älteste Tochter nicht (mehr) in den Kindergarten und dann auch nicht in die Schule wollte. Das brachte mich zu einer praktischen und auch theoretischen Beschäftigung mit dem Thema, was in einem ausführlichen Selbststudium mündete. Unser Familienleben war seit jeher von einem gleichwürdigen Miteinander geprägt, so stellt das freie Lernen für mich quasi eine logische Fortsetzung dar; zunächst mal egal, ob es in institutionellem oder familiären Kontext stattfindet. Wir sind einige Zeit mit Wohnmobil gereist – „Roadschooling“ sozusagen. Momentan besucht unsere große Tochter auf eigenen Wunsch eine freie Schule.

Lena

Autorin: Lena Busch
Durch meine drei Kinder habe ich gemerkt, was für ein großes Thema und teilweise Tabuthema freies Lernen, freie Bildung oder gar schulfreies Leben darstellen und wieviel Unklarheiten und Vorurteile herrschen. Mit meinem Blog www.freilern-blog.de und einer Online-Bildungskonferenz möchte ich informieren und vernetzen.

 

4 Kommentare

  1. öhhm, und wie seit ihr der Schulpflicht in D entronnen??? Wir überlegen ja,eventuell das Land zu verlassen, unter anderem aus dem Schulpflichtproblem…

  2. Es gibt mittlerweile immer mehr Familien, die ohne Schule in D leben – durch Einzellösungen, zeitweise Beurlaubungen oder die zB mit Hilfe des BVNL den Weg durch die Instanzen gehen. Denn auch vielen Institutionen kommt es letztlich doch mehr auf das Wohl des einzelnen Kindes an als auf ein auf wackligen Füßen stehendes Gesetz aus der Nazizeit.

  3. Susanne Delpin

    Toll Erklaert! Als Eltern beginnt man eine Reise und sieht erst am Weg wohin es geht.

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