Schublade auf, Eltern rein, Schublade zu

Ich sitze im Café, mein Baby schläft im Tragetuch vor mir und ich arbeite an meinem Laptop, meine Tochter sitzt mit ihren Kopfhörern und einem Stück Torte neben mir. Eigentlich fühlt sich dieser Tag gut an. Ich komme voran mit meiner Arbeit und meine Tochter genießt es, in Ruhe dort zu sitzen und ihr Hörspiel zu hören und dabei ein Stück Torte essen zu dürfen. Ein besonderer Tag, ein kleines Fest. Eigentlich wäre es schön, wenn sich nicht eine Frau uns gegenüber gesetzt hätte, die mich missbilligend anblickt.

So oft erleben wir kleine Momentaufnahmen aus dem Leben anderer Menschen: die Mutter, die auf dem Spielplatz lange auf ihr Handy starrt, der Vater, der erschöpft das protestierende Kind trägt, das Kind mit der Chipstüte in der Bahn – oder das Kind mit Kopfhörern und Torte neben arbeitender Mutter. Es sind kleine Aufnahmen aus dem Leben einer anderen Familie. Meist wissen wir nicht, was davor kommt oder danach. Wir machen uns in wenigen Sekunden ein Bild, eine Vorstellung: Schublade auf, Schublade zu. Wir sehen nicht, dass die Handymutter vielleicht den ganzen Tag zuvor liebevoll Zeit mit ihrem Kind verbracht hat und nun eine Pause braucht. Oder dass der Vater heute die xte Auseinandersetzung in Fragen der Autonomie mit seinem Kind hatte und es nun einfach nur noch schnell nach Hause bringen möchte, weil auch er Ruhe braucht. Oder dass das Kind mit den Chips sich diese aus einem Automaten im Schwimmbad aussuchen durfte, weil es das letzte Mal beim Schwimmkurs war und das Seepferdchen bekommen hat. Wir sehen nur das, was wir in diesem Moment sehen – und was wir sehen wollen.

Natürlich kann auch ich mich nicht immer von Vorurteilen frei machen. Auch ich habe meine Schubladengedanken. Doch ich versuche, sie nicht zu öffnen. Denn ich weiß: Meine Schubladen helfen nicht. Mir nicht und bestimmt nicht der Mutter oder dem Vater mir gegenüber. Meine Schubladen machen es mir leichter, die Welt zu kategorisieren, aber manchmal machen sie es auch zu leicht und die Welt ist nur in schwarz und weiß nicht mehr schön.

Vielleicht ist das, was ich als Fehlverhalten wahrnehme, wirklich eins. Vielleicht ist da ein Mensch, der es wirklich nicht „richtig“ macht. Aber ich werde ihn nicht dadurch ändern, dass ich ihn verurteile oder missbilligend anblicke. Vielleicht kann ich etwas bewegen, wenn ich offen in ein Gespräch komme, wenn ich Anteil nehme, zuhöre und antworte. Vielleicht aber ist das, was ich sehe, aber auch ganz anders. Ich kenne nicht die Geschichte dahinter und in diesem Fall ist auch ein strenger Blick falsch am Platz, denn ein aufmunterndes Lächeln oder ein freundliches Lachen hilft viel mehr und gibt neue Kraft.

Wer weiß schon, wie es „richtig“ geht? Es gibt Dinge, die nie richtig sind: physische und psychische Gewalt (darunter zählt auch das „kontrollierte“ Schreienlassen). Doch im Alltag gibt es so viele verschiedene Möglichkeiten, so viele Ideen und Lebensentwürfe, dass wir uns nicht anmaßen sollten, andere zu verurteilen für ihren ganz persönlichen Weg: Mütter stillen, Eltern füttern mit der Flasche, Eltern tragen, Eltern fahren Kinderwagen, Eltern benutzen Stoffwindeln, halten ab oder benutzen Wegwerfwindeln. Eltern füttern Brei oder lassen das Baby vom Familientisch mitessen. Eltern sind die Eltern ihrer Kinder. Sie leben und wachsen mit ihnen, sie treffen ihre Entscheidungen. Sie kennen ihre Kinder und kennen sich selbst: ihre Möglichkeiten, ihre Grenzen. Wir Eltern wollen das Beste für unsere Kinder und geben es ihnen auf die Art mit, von der wir denken, dass wir sie leisten können und es ihnen gut tut.

Manches Mal ist es nicht einfach, Eltern zu sein, Entscheidungen zu treffen, abzuwägen und zu handeln. Deswegen brauchen wir Eltern Unterstützung, ein Lächeln, ein Schulterklopfen, ein paar nette Worte.

Vielleicht seht Ihr heute jemanden und denkt, dass das wirklich so nicht richtig ist. Nehmt euch die paar Minuten Zeit und überlegt, ob es zu der Situation auch eine andere Geschichte geben könnte, eine wohlwollende. Und wenn es eine Frau ist, die in einem Café sitzt mit ihren Kindern und Schokotorte isst und die Kinder Hörspiele hören lässt, dann winkt einmal rüber, setzt Euch zu mir und wir reden über unsere „schlechten Seiten“.

Eure

Susanne_clear Kopie

 

17 Kommentare

  1. Katinka aus LE

    Liebe Susanne, das stimmt schon. Ich denke nur an eine Situation, für die es für mich schwierig ist, nicht zu denken, dass die Eltern etwas falsch machen. Wir leben in Südfrankreich und wenn es wirklich Sommer ist, gehen wir mit den Kindern nur morgens oder abends an den Strand. Und wenn wir dann gegen Mittag wieder aufbrechen und ich Familien mit Kleinkindern und Babies ankommen sehe, die dann nicht mal geschützt werden (keinen Sonnenhut, Sonnenbrille, armbedeckendes T-Shirt etc.), kann ich leider nichts anderes denken als: die machen es falsch. Und ich verurteile….

    • Klar, das stimmt. Das zählt auch schon ein wenig in den Bereich des körperlichen Schadens, wenn Eltern das machen. Hier hilft nur Aufklärungsarbeit über den Schaden der Sonnenstrahlung.

      • Susi Sorglos

        Fragt suich nur ob das was du für aufklärersich hältst und für Allgemeinwissen hältst, wirklich der Wahrheit entspricht oder nur Propaganda der Kosmetikindustrie. So wir uns früher eingeredet wurde, dass Milch gesund für Kinder ist und unabdingbar.

  2. Britta Ri

    Gerade heute Morgen schaute ich vom Balkon auf die Straße hinunter, wo ein wild zeterndes Mädchen mit Schulranzen stand und einige Meter entfernt die Mama mit Zigarette im Mund, die offensichtlich nicht bereit war, (worum auch immer es ging) nachzugeben. Meine Schublade war auch schon halb offen, aber dann habe ich mich dazu ermahnt, nicht zu urteilen, eben weil ich überhaupt nicht wusste, was los war, und wieso es zu dieser Auseinandersetzung gekommenwar. Und jetzt lese ich diesen Artikel. Wie passend und schön! Danke 🙂

  3. kratschie

    Heute hat sich eine Mama auf dem Spielplatz getraut ich zu fragen, wieso ich nur zusehen würde, was mein Sohn spielt und nie mitspielen würde. Nachdem ich ihr erklären konnte, dass ich einerseits aktuell aus gesundheitlichen Gründen eigentlich nur liegen dürfte und nicht ’spielen darf‘ und außerdem genieße meinen Sohn zu beobachten, wie er in sein Spiel vertieft ist, wurde ich wohl aus einer Schublade wieder rausgeholt. Solche Situationen sind sehr selten. Auch ich tue mich mit dem direkten Nachhaken oft schwer, sondern spinne mir meine eigene kleine Version zusammen.

    • Susi Sorglos

      Ich finde Mütter müssen auch nicht unbedingt mitspielen, das ist keine Aufgabe von Müttern, jedenfalls nicht ständig. Bei naturvölkern spielen die Mütter auch eher selten mit den Kindern, eher die Kinder untereinander.

  4. Oh ja, leider tappe ich auch oft in die Falle und verurteile, rolle mit den Augen oder schüttele den Kopf. Nur um dann wenige Momente später etwas zu tun, was für die anderen Eltern um mich herum vermutlich nicht weniger verwerflich aussieht.
    Dann gehe ich mit einem schreienden Kind im Tragetuch die Straße entlang – ich weiß, dass es schreit, weil es gleich einschläft. Ich weiß, dass es müde ist und überreizt und das aus sich heraus schreit. Und ich weiß, dass es weiß, dass ich bei ihm bin, es schaukele und ihm leise etwas vorsinge.
    Die Mutter, die mir auf der Straße begegnet, weiß das allerdings nicht…

    • Susi Sorglos

      Ja, es ist schwer…wenn ich früher eine Mutter mit einem weinenden Kind sah oder ein schreiendes Kind , dachte ich auch gleich: warum tröstet sie denn das arme Kind nicht oder was hat sie dem Kind wohl angetan, dass es so weint und wurde wütend. Da ich jetzt aber bei meinem Enkelkind sehe, dass Kinder auch schrecklich weinen und schreien können, ohne dass ihnen jemand irgend etwas zuleide getan hat und sie auch manchmal einfach nicht zu trösten sind (meine eigenen Kinder waren eher „pflegeleicht“) sehe ich das inzwischen anders und habe eher Mitleid mit der armen Mutter.

  5. Vielen Dank für den Text, heute sind die „Schubladen“ bei mir persönlich zu geblieben! Ich bin viel entspannter durch den Tag gegangen, mit zwei Kindern, mit denen ich sicher nicht in jeder Situation perfekt reagiert habe. Dafür haben wir im Bus eine Frau getroffen, die sehr nett mit mir und meinen Töchtern gesprochen hat, vielleicht waren ihre „Schubladen“ heute auch zu….

  6. ideas4parents

    Wer hat keine Schubladen? Was tröstet – wenn wir merken, dass unsere eigenen Schubladen auf gehen, dann können wir sie auch wieder schließen 🙂

  7. Antje Müller Meyer Lehmann

    Meist bin ich mein größter Kritiker, von anderen lasse i mich kaum beeinflussen gerade weil sie ja nur ein unvollständiges Bild haben. Die ganze Schubladengeschichte erinnert mich aber an meine Erzieherin im Kindergarten. Sie hat das Gehirn mit Schubladen erklärt, die man immer gut zu machen muss, damit man nix vergisst! 🙂

  8. Susi Sorglos

    „Einfach mal ein bisschen im Netz schauen“, tust du wenn du mit deinem Kind unterwegs bist? Das finde ich supertraurig. Die Zeit mit deinem Kind kommt nicht zurück und die Minuten, die du mit den Augen auf dem Display verbracht hast, statt in die Augen deines Kindes zu schauen wirst du später bitter bereuen.

    • Und schon wieder eine Schublade auf… vllt schläft ihr Kind im Kinderwagen ja?! Wenn mein Sohn schläft unterwegs dann daddel ich auch mit meinem Handy… warum auch nicht?!

  9. Katharina R.

    Ein sehr treffender Beitrag! Ich war vor wenigen Wochen genau die Handy Mutter die nebenbei den Kinderwagen schob und musste mir einen ziemlich gemeinen Kommentar von einem Rentner Ehepaar anhören. Sie wusste allerdings auch nicht,dass ich seit ner Stunde mein Kind in den schlaf schiebe und dass er sich immer die Bäume ansieht und so in den schlaf findet.. und auch nicht dass es das erste Mal an dem Tag war, dass ich auf mein Handy sah. Aber sie haben mich direkt verurteilt..ich selbst kann mich von meinen Schubladen auch bestimmt nicht immer frei machen aber nach der Begegnung denke ich doch einmal mehr drüber nach. Du sprichst mir aus der Seele. Liebe Grüße

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